Lass uns reden! - Tipps und Tricks zur Dialogführung:Werkzeugkoffer
Teil A
Es ist super stark, dass du dich mit dem Thema auseinandersetzt!
Vielleicht hast Du ja schon eine Idee, mit wem Du gerne in den Dialog treten würdest. Häufig gibt es mindestens eine Person in dem eigenen Familienund Bekanntenkreis, die eine schwierige Einstellung zum Thema Migration hat. Das ist belastend für das Klima der Zusammenkünfte und Beziehungen und häufig wird das Thema Politik dann ganz vermieden. Das ist bedauerlich, denn gerade hier liegt die Chance für einen Perspektivenaustausch und eine Perspektivenerweiterung außerhalb des eigenen Kokons. Das Ziel dieses Kapitels ist, sich gegenseitig besser verstehen zu lernen. Dadurch kann ein Raum entstehen, in dem auch über brisante Themen diskutiert, aber nicht gestritten werden kann. Schön wäre es, wenn hier nun eine allgemeingültige Bauanleitung kommen würde, wie eine gelungene Dialog-Situation zu führen ist. Leider ist das nicht so einfach. Es gibt nämlich nicht das eine universelle Werkzeug für den richtigen Dialog, denn dafür sind Menschen und Situationen zu individuell. Dennoch ist es möglich, besser im Argumentieren, im Fragen stellen, im Hineinversetzen und Verstehen zu werden, um schlussendlich die eigene Kombination aus Werkzeugen zu finden. Versuche deshalb, Dir das Folgende als dynamisches Projekt mit Dir selber vorzustellen. Meist braucht es Übung, denn kontroverse Dialoge können intensive und emotionale Prozesse sein - vor allem mit Menschen, die Dir nahe stehen. Wir beginnen beim Konzept einer starken, selbstbewussten Haltung. Das soll Dich und Deine Gefühle in den Mittelpunkt rücken, um Dich im Idealfall vor unnötiger Frustration zu bewahren. Die Idee ist dabei, dass Du Dir im Vorfeld eines Dialogs Gedanken über folgende Fragen machst, damit Du Dich während des Dialogs auf Dein Gegenüber konzentrieren kannst:
Was ist meine Motivation?
Was ist ein realistisches Ziel?
Welche Unterschiede liegen zwischen mir und meinem Gegenüber?
Wo liegen meine Grenzen?
Darauf folgen sechs Tipps für eine bessere Dialogführung, die dabei helfen können, Dir bewusst zu machen, was der jeweilige gemeinsame Dialog im positiven Sinne ausmacht. So könnt Ihr Euch im Verlauf des Gesprächs besser aufeinander einstellen. Denn um wirklich ein Umdenken bei Deinem Gegenüber anzuregen, braucht es eine wertschätzende Haltung gegenüber dieser Person, auch wenn Du die Emotionen, Erwartungen und Ängste erst einmal nicht verstehen kannst. Als letztes stellen wir Dir sieben Argumentationsmuster vor, die häufig in rechtspopulistischen Diskussionen benutzt werden. Diese sind trickreich aufgebaut, aber auch leicht zu widerlegen, wenn Dir die Struktur bewusst ist. Im Abschluss dieses Teils werden wir weitere rassistische Parolen dekonstruieren, damit Du auch damit im besten Falle umgehen kannst.
Noch ein Satz, bevor es losgeht: Mach Dir die Ungleichheit Eurer Mühen und Standpunkte bewusst, übernimm Dich nicht und vor allem: Pass auf Dich auf!
Was ist meine Motivation?
Im ersten Schritt stellen wir uns die Frage: „Warum betreibe ich eigentlich den ganzen Aufwand für den Dialog?“ Hier kannst Du Deine eigene Motivation formulieren. Motivation ist die Basis für den erfolgreichen Dialog und es ist gut, sich diese für alle Folgegespräche zu erhalten. Denn ein einzelnes Gespräch ist oftmals nicht ausreichend für einen umfangreichen Perspektivenwechsel. Das können wir aus unserer eigenen Erfahrung mit unserer Reflexion des privilegierten Weißseins bestätigen. Um zu gewährleisten, dass Deine Motivation erhalten bleibt, ist sie die Basis der folgenden Schritte. Warum also möchtest Du den Aufwand betreiben? Ist es für Dich schwer auszuhalten, wenn Dir Nahestehende offensichtlich an ihren Vorurteilen und Rassismen festhalten? Oder steht hier ganz klar der Kampf für eine freiere und gerechtere Welt im Fokus und der Dialog ist der erste notwendige Schritt? Oder vielleicht ist beides oder noch etwas ganz anderes der Fall? Versuche, Dein wichtigstes Ziel zu priorisieren, um Dich nicht auf zu viele Dinge gleichzeitig fokussieren zu müssen. Denn zu viele Erwartungen und Ansprüche können auch zu schnellerer Frustration führen. Grundsätzlich gilt: Je präziser Du bei der Formulierung Deiner Motivation bist, desto leichter kannst Du die passende Gesprächsstrategie sowie Ziele und Grenzen ableiten. Wenn der eine Weg sich als unbrauchbar herausgestellt hat, ist es immer noch möglich, die Strategie zu ändern.
! Es kann Dir z.B. etwas an der Qualität Eurer Beziehung liegen, aber es kann Dir auch wichtig sein, Position zu beziehen, wenn Du menschenfeindliche Aussagen hörst. Diese beiden Bedürfnisse haben das Potenzial, sich gegenseitig negativ zu beeinflussen: Auf der einen Seite ist Dein Einfühlungsvermögen gefragt und auf der anderen Seite steht das Bedürfnis, Aussagen richtigzustellen.
Im Folgenden stellen wir drei Beispiele und ihre Dialog-Motivationen vor und verbinden sie direkt mit einem Ziel.
1. Motivator: „Es geht mir um die Qualität unserer Beziehung“
„Ich fühle mich unwohl, weil die Verbindung, die ich mit dieser Person habe, von den Aussagen und Meinungen der Person in Mitleidenschaft gezogen wird. Die Haltung, die von der Person eingenommen wird, ist mir unverständlich, weswegen ich die Verständigung an sich anzweifle.“ Im Fokus dieses Motivators steht das Herstellen von Verständnis. Entsprechend können sich daraus Ziele ergeben, die sich an der Bereitschaft zur Verständigung orientieren.
Beispiel-Ziel: „Mein Gegenüber ist bereit, mir seine Sicht der Dinge zu erläutern und geht dabei auch emotional in die Tiefe, so dass ich einen Zugang habe ihn*sie besser zu verstehen.“
2. Motivator: „Es geht mir um die Sache“
„Ich fühle mich alarmiert und bin schockiert, wenn ich menschenfeindliche Aussagen von Personen höre, die mir nahestehen. Es ist eine Frage des Anstandes, reflektiert mit Themen umzugehen. Die Folgen von Vorurteilen und Rassismus sollten jeder Person bekannt sein!“ Im Fokus steht hier die eigentliche sachliche Debatte. Jedoch ist zu beachten, dass gute Argumente manchmal nicht genügen, um zu überzeugen. In vielen Fällen muss erst ein Austausch über die gegenseitigen Perspektiven geführt werden, damit die Argumente auch ankommen und verstanden werden können. Falls diese Herangehensweise keine große Aussicht auf Erfolg hat, solltest Du Dir gegebenenfalls kleinere Ziele setzen.
Beispiel-Ziel: „Auch, wenn meine Argumente nicht für ein Umdenken meines Gegenübers genügen, werden die darin enthaltenden Fakten als solche anerkannt.“
3. Motivator: „Es geht mir darum, dass ich mich wohl fühle in meinem Umfeld"
„Ich fühle mich unverstanden und nicht ernst genommen. In politischen Debatten wird mir und meinen Aussagen nicht die nötige Ernsthaftigkeit entgegengebracht. Auf dieser Basis will und kann ich keine Diskussion führen.“ Der Fokus dieses Motivators liegt auf Dir selber und deinem Wohlbefinden. Die gegenseitige Beziehung zu Deinem Gegenüber hat dabei eine eher nachgestellte Bedeutung. Ziele orientieren sich daran, inwieweit Dein Gegenüber Dir Raum für Deine Sicht der Dinge zugesteht oder es generell schafft, sich auf Deine Bedürfnisse einzustellen.
Beispiel-Ziel: „Es wird mir die Möglichkeit geboten, länger meinen Standpunkt zu erklären, ohne dass ich unterbrochen werde und auch ohne non-verbale Äußerungen wie ein Augenrollen oder Seufzen.“
Beispiele für Ziele, auf die keinen/wenig Einfluss hast:
„Ich möchte, dass wir uns wieder verstehen.“
Es kann sein, dass Dein Gegenüber Dir nicht die gleiche Aufmerksamkeit schenkt, wie Du ihm*ihr. Du kannst der anderen Person nur die Möglichkeiten geben, auf das von Dir Gesagte taktvoll zu reagieren. Wenn diese Einladung nicht verstanden wird, versuche es als fehlende Bereitschaft, sich auf das Thema einzulassen einzuordnen.„Ich möchte, dass mein Gegenüber seine* ihre Meinung überdenkt.“
Ein wirkliches Umdenken zu erwirken, ist leider nicht möglich. Dafür ist eine individuelle Motivation nötig. Diesen Prozess kannst Du aber unterstützen. Deswegen sind gut gestellte Fragen, die zum Nachdenken anregen, meist besser als eine Flut an Wissen und Fakten.„Ich möchte, dass der Dialog nicht zu einem Streitgespräch eskaliert.“
Du kannst noch so empathisch und gewaltfrei kommunizieren. Manchmal ist Dein Gegenüber trotzdem nicht erreichbar. Es ist in Ordnung, wenn Du Dich von Provokation mitreißen lässt und klare Kante zeigst. Achte trotzdem darauf, dass die Auseinandersetzung nicht gegen Deine selbstgesteckten Ziele und über Deine Grenzen hinausgeht. Versuche achtsam mit Deinen Ressourcen umzugehen und rechtzeitig aus dem Gespräch auszusteigen.„Ich möchte, dass mein Gegenüber sich mir öffnet.“
Auch hier hängt einiges von Deinem Gegenüber ab. Manche werden sich schlichtweg nicht öffnen können. Oft steckt dahinter auch die Ahnung, dass Deine Position sich deutlich von ihrer*seiner unterscheiden wird und Dein Gegenüber sich daher nicht auf einen kontroversen Dialog einlassen möchte. Hierbei kann mit einfühlenden Fragen unterstützt werden.
Beispiele für Ziele, auf die du Einfluss hast:
„Ich werde wahrgenommen mit einer gefestigten Meinung, hinter der auch etwas steht.“
Durch gute Argumente mit einem roten Faden und aktiver Gesprächsführung kannst Du selbst entscheiden, ob Du Deinen Ansprüchen gerecht wirst. Pass jedoch auf, dass Du Deinen Gegenüber nicht in Grund und Boden argumentierst. Dies könnte eine Abwehrhaltung gegenüber Deiner Position hervorrufen.„Ich habe mich mit der Haltung positioniert, menschenfeindlichen Aussagen keinen Raum zu bieten.“
Eine argumentativ fundierte und sachliche Positionierung zu menschenfreundlicher Politik kann eine starke Wirkung haben. Den anderen Personen im Raum wird dabei klar, dass wackelige Parolen und Floskeln keine Chance gegen Dich haben. Das bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass Dein Gegenüber sich den Raum dafür nicht woanders sucht.„Ich verstehe die Position meines Gegenübers. Ich teile sie nicht, aber ich habe eine Einsicht in die Person und ihre Persönlichkeit gewonnen und kann das Gesagte reflektieren und im Verhältnis verstehen.“
Das Ziel hängt ganz von Dir, Deinem Einfühlungsvermögen und Deinen Fähigkeiten ab, das Gesagte in einem größeren Kontext zu sehen. Auch wenn Meinungen und Positionen aus einer bestimmten Perspektive verständlich sind, heißt es nicht, dass diese keinen gesellschaftlichen Schaden anrichten können. Es ist jedoch ein erster Schritt, diese Perspektive und die Bedürfnisse zu verstehen, umDeinem Gegenüber eine andere Perspektive nahe bringen zu können.
Bevor im folgenden Schritt Grenzen formuliert werden sollen, wollen wir Dich dafür sensibilisieren, dass unterschiedliche Lebensrealitäten, Werdegänge, Ansichten, Geschlechtervorstellungen und Erfahrungen sich auch in der Art der Kommunikation mit anderen Menschen zeigen. Oft sind die Erfahrungen so unterschiedlich, dass wir gar nicht mehr verstehen, was unser Gegenüber jetzt genau meint. Verstehen meint dabei, wirklich nachvollziehen zu können, woher ein Gedanke kommt. Wenn Du verstehst, woher ein Gedanke kommt, kannst Du Deinem Gegenüber leichter eine andere Perspektive aufzeigen. Dadurch fällt es leichter, über brisante Themen zu reden, da kontroverse Aussagen besser im Verhältnis verstanden werden können.
! So kann z.B. mit der Aussage „Flüchtlinge klauen uns die Jobs“ unterschiedlich umgegangen werden. Eine Interpretation dieser Aussage kann dann so lauten: „So eine billige Parole ist einfach nur rassistisch und menschenfeindlich!“ Hier eine Basis für einen Dialog zu finden, ist schwer, da so eine Aussage erst einmal Abneigung erzeugt. Wenn Du jedoch die Person kennst, kann diese Aussage auch ganz anders verstanden werden. Z.B., wenn Du weißt, dass die Person lange Probleme hatte, eine Lohnarbeitsstelle zu finden. Dann ist die Aussage zwar immer noch rassistisch und falsch, aber Du kannst Dir vorstellen, was die Person eigentlich sagen will: „Ich habe Angst, dass es anderen Menschen in meinem Umfeld wie mir ergeht. Durch zugezogene Menschen aus dem globalen Süden könnte der Arbeitsmarkt strapaziert.“ Hier kann viel leichter ein Dialog entstehen, da es sich lediglich um um eine inszenierte Angst handelt.
Um aber an diesem Punkt des gegenseitigen Verstehens anzukommen, ist eine Auseinandersetzung mit der Perspektive und dem Lebensweg Deines Gegenübers nötig. Versuche durch gezielte und sensible Fragen herauszufinden, wie Dein Gegenüber zu dieser Position kommt. Ehrliches Interesse ist dabei der Schlüssel. Im schlimmsten Fall spürt die andere Person Dein unehrliches Interesse, das kann beleidigend wirken. Wenn Du Dir nicht sicher bist, wie etwas gemeint sein könnte, oder wenn Du etwas nicht verstanden hast, dann frag nach! Jede Frage gibt der anderen Person Raum, um sich zu öffnen. Es ist eine starke Haltung, sich wirklich mit der anderen Person auseinander setzen zu wollen, bevor man sie kritisiert. Das kann den Effekt haben, dass Dein*e Gesprächspartner*in auch Interesse an Deiner Person und Perspektive bekommt. Eine deutliche Grenze ist dann jedoch, wenn Du merkst, dass Deinem Gegenüber nicht an einem Perspektivenaustausch gelegen ist, sondern er*sie lediglich die eigene Position in Form von Parolen platzieren möchte. Ein Dialog ist keine Einbahnstraße und es gehören mindestens zwei offene Haltungen dazu. Um sich auf die andere Person einzulassen, kannst Du Dir im Vorfeld schon ein paar Gedanken machen, die Dir auch als Orientierung im Dialog dienen können. Dabei ist vor allem die Suche nach Gemeinsamkeiten eine gute Basis für einen intensiven Dialog. Um den Bogen zur Migrationspolitik zu spannen, ist das Thema ‚Werte‘ geeignet. Wenn sich also im Vorfeld gemeinsam auf bestimmte Werte und Vorstellungen geeinigt wurde, bietet das die beste Basis, um mit diesen zu argumentieren. Damit auch Du von Deinem Gegenüber besser verstanden wirst, kann es helfen, dass Du Dich fragst, wie die andere Person Dich wahrnimmt. Meist ist unsere Wahrnehmung von den verschiedensten Stereotypen beeinflusst, wenn wir diese nicht umfangreich reflektieren. Deinem Gegenüber wird es sicher nicht anders gehen. Bleibe hier möglichst authentisch und transparent: Versuche, Deine Entwicklung als unabgeschlossenen Prozess zu vermitteln. Denn das ist kein Defizit, sondern macht Deinem Gegenüber deutlich: Auch Du bist nicht unfehlbar. So wird es Deinem Gegenüber leichter fallen, sich auf Dich einzustellen, da Du Dich nicht über die Situation und damit auch nicht über Dein*e Gesprächspartner*in stellst.
Deine Ziele sind abgesteckt? Die Unterschiede zwischen Dir und Deinem*r Gesprächspartner*in hast Du ungefähr greifbar? Wunderbar! Sehr wahrscheinlich wird Dein Gegenüber nicht die gleiche Energie für einen Dialog aufwenden wollen oder können. Wenn der Dialog aus den Fugen gerät, ist ein Gesprächsabbruch manchmal das Beste, um zusätzliche Frustration zu verhindern. Je besser Du weißt, was Dich aus der Fassung bringt, desto besser kannst Du Dir Grenzen setzen, die Dich schützen. Deine Grenze kann in gewisser Weise das Gegenteil Deines Ziels sein. Wenn Du Dir als Ziel gesetzt hast, wieder einen harmonischen Umgang miteinander zu haben, kann eine mögliche Grenze sein, dass die andere Person ganz klar dagegen arbeitet durch z.B. ungenaues Zuhören und falsches Wiedergeben Deiner Worte. Das kann z.B. dazu führen, dass Du sauer oder angreifend und damit auch dialogunfähig wirst. Dabei ist der Abbruch eines Dialoges noch lange nicht das Ende und auch nicht das letzte Mittel, sondern nur eine gute Option für den Moment! Sich diese Möglichkeiten bewusst zu machen, ist ein wichtiger Teil der Haltung. Es gibt dabei einen Unterschied zwischen Dialogabbruch und Dialogausstieg.
1. Der Dialogabbruch
„Die von mir gesetzte Grenze ist überschritten und ich möchte nicht weiter diese Art von Gespräch führen, weil meine vorher gesetzten Ziele nicht mehr erreichbar sind. Ich sehe diesen Prozess als beendet an.“
Dann hast Du Dich endgültig dafür entschieden, nicht noch einmal in den Dialog mit der Person zu gehen. Da gibt es nun zwei Strategien. Deine Motivation ist an diesem Punk wahrscheinlich erloschen. Ab jetzt geht es nicht mehr darum, Haltung zu bewahren, sondern einen sauberen Abgang hinzulegen und Platz zu schaffen für all Deine Frustration und Gefühle, die Du zum Wohl des Dialogs zurückgehalten hast. Die erste Strategie (politische Positionierung) kannst Du gut anwenden, wenn Dein Ziel vorher war, einen sachlichen Dialog zu führen. Die zweite (emotionale Positionierung) passt, wenn Du ein besseres Verständnis miteinander erzielen wolltest.
a. Die politische Positionierung
Jetzt ist Schluss mit einfühlsamen Entgegenkommen. Jetzt wird richtig auf den Tisch gehauen und Position bezogen! Das kann Dir helfen, nicht mit dem schlechten Gefühl aus dem Dialog zu gehen, einen Raum für rassistische Aussagen und Meinungen geschaffen zu haben. Vielleicht ist es sinnvoll, dass Du Dir bereits im Vorfeld in etwa überlegst, was Du sagen möchtest - auch, damit Dein Abgang die entsprechende Wucht hat. Da kannst Du auch eine deutliche Forderung Deinem*r Gesprächspartner*in gegenüber äußern. Z.B., dass Du Dir rassistische Äußerungen in Deinem Beisein verbietest. Dies ist vor allem dann sinnvoll, wenn noch andere Personen dabei sind. Sei Dir jedoch der Konsequenzen bewusst und gehe diesen Weg am besten nur, wenn Du Dir ganz sicher bist, dass nichts Positives aus diesem oder folgenden Gesprächen zustande kommt.
b. Die emotionale Positionierung
Das taktvolle, friedvolle, aufmerksame Entgegenkommen wurde nicht als solches verstanden und wertgeschätzt. Dein Gegenüber ist nicht in der Lage, eine ähnliche Gesprächshaltung wie Deine anzunehmen und verspielt damit die Chance auf eine verständnisvollere, harmonischere Beziehung zu Dir. Es kann jetzt eine gute Idee sein, Deinem Gegenüber genau das zu vermitteln. Vermittle wenn möglich die Mühe, die Du Dir gegeben hast, und dass Du nun das Gespräch vielleicht sogar enttäuscht abbrechen musst. Wir empfehlen hier ‚Ich-Botschaften‘ und wenn möglich die Vermittlung Deiner Gefühle. Achtung: Interpretiere NICHT die Gefühle Deines Gegenübers! Damit bietest Du ihm*ihr eine Angriffsfläche und die Möglichkeit, das Gespräch vom eigentlichen Thema abzulenken: nämlich Deine Position und Deine Gefühle.
2. Der Dialog-Ausstieg
„Die von mir gesetzte Grenze ist überschritten und ich möchte nicht weiter diese Art von Gespräch führen. Ich habe aber die Kraft, weiterhin über die Haltung meines Gegenübers hinwegzusehen und sehe diesen Prozess noch nicht als beendet an. Ich behalte meine Haltung bei und versuche, dass beide Parteien unbeschadet aus dem Dialog austreten können.“
_Mit dieser Strategie legst Du das Fundament für einen weiteren Di_alog zwischen euch. Manchmal ist eine Situation einfach nicht so richtig geeignet oder es kommen Themen auf, mit denen Du nicht gerechnet hast. In dem Fall ist ein taktischer Rückzug mit anschließender Reflexion des Dialoges die beste Möglichkeit. Mache Deinem Gegenüber das Angebot, zu einem anderen Zeitpunkt nochmal darüber zu sprechen. Beide Seiten haben dann die Möglichkeiten, sich vorbereitend Gedanken zu machen. Und wer weiß, vielleicht überrascht Dich Dein Gegenüber im nächsten Gespräch mit einer Veränderung in der Argumentationslinie. Je deutlicher Du es schaffst, Deiner*m Gesprächspartner*in zu vermitteln, warum und wie die von Dir gesetzten Grenzen überschritten wurden, desto einfacher wird es für sie*ihn, das zu akzeptieren und im besten Falle ebenfalls zu reflektieren. Sei Dir aber über die Ungleichheit eurer Bemühungen bewusst und gehe diesen Weg nur, wenn Du es akzeptieren kannst, dass es vor allem für Dich einen Kraftakt bedeutet
Sechs Tipps für einen besseren Dialog
In der Interaktion mit Menschen inszeniert sich jede*r nach einer gewissen Vorstellung von sich selbst. Vor allem Eigenschaften, die wir als positiv bewerten, sind ein wichtiger Teil davon. Sich der eigenen Qualitäten in einem herausfordernden Gespräch bewusst zu sein, ist bestärkend. Mach Dir also Deine Stärken bewusst. Wertschätzung spielt eine große Rolle. Ohne sie können negative Dynamiken wie z.B. Enttäuschung oder Provokation entstehen. Wichtig ist, dass Du versuchst, Dich nicht abhängig von der Anerkennung und Wertschätzung durch Dein Gegenüber im Gespräch zu machen. Das ist besonders dann kein leichtes Unterfangen, wenn Dir die Person nahesteht. Aber einen Versuch ist es wert. Dabei kann es Dich unterstützen, Dich für die kleinen erfolgreichen Momente im Gespräch innerlich zu feiern. Mach Dir bewusst, dass Dein Gegenüber Dich auf eine bestimmte Art wahrnimmt, die nichts mit Dir zu tun haben muss. Gleichzeitig wird Dein Gegenüber in einer ähnlichen Situation sein und sich auf eine bestimmte Weise inszenieren. Teil Deiner Haltung kann es sein, Dich nicht provozieren zu lassen. Dabei kannst Du in eurem Gespräch als Vorbild vorangehen und gleichzeitig aufmerksam sein für die Eigenschaften, mit denen sich Dein Gegenüber inszeniert. Da es sich hierbei um einen Kraftakt Deinerseits handelt, ist es wichtig, dass Du Dir Grenzen für Dein Entgegenkommen setzt.
Es geht hierbei darum, anzuerkennen, dass es aus der Perspektive Deines Gegenübers sinnvolle Gründe für seine*ihre Meinung gibt. Diese stammen aus seiner*ihrer eigenen Sicht und müssen nichts mit Deiner Realität zu tun haben. Doch es gibt sie. Versuche, die Gründe der Meinung Deines Gegenübers zunächst einmal anzuerkennen, ohne sie unbedingt vollständig verstehen zu müssen. Das ermöglicht einen Dialog auf Augenhöhe. Ansonsten sprichst Du der anderen Person seine*ihre Mündigkeit ab, was im schlimmsten Fall für Dein Gegenüber spürbar wird und mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Abwehrhaltung führt. Besonders herausfordernd wird es für Dich, wenn es sich um rassistische Formulierungen und Ansichten handelt. Um einen gelungenen Dialog zu erleben, sollte, wenn möglich, ein gemeinsamer Weg beschritten werden. Dazu ist es oftmals nötig, die Sicht der anderen Person nachvollziehen zu können. Für einen Perspektivenwechsel bringt es nichts, allein durch moralische Überlegenheit im Recht sein zu wollen. Da auch hier nicht sicher ist, ob Dir dasselbe Engagement entgegengebracht wird, formuliere für Dich Grenzen.
Unterschiede in der Meinung können erst einmal bedeuten, dass unbeantwortete Fragen im Raum stehen. Sie bieten das Potenzial, sich besser kennenzulernen! Aufmerksames und ernst gemeintes Zuhören sind das Werkzeug jedes guten Dialoges. Echtes Interesse und Aufmerksamkeit können dabei wahre Wunder bewirken. Viele Menschen sind es nicht gewohnt, dass ihnen zugehört wird, weswegen sie selbst auch nicht bereit dafür sind. In einer schnelllebigen und sich immer weiter spaltenden Gesellschaft ist aktives Zuhören seltener geworden. Versuche diesen Kreislauf der Unaufmerksamkeit zu unterbrechen und zeige Deinem Gegenüber, dass Du es ernst mit dem Wusch des gegenseitigen Verstehens meinst. Wichtig ist dabei, sich darauf zu konzentrieren, was die andere Person sagt und wie sie es sagt. Das heißt nicht, dass Du ihr zustimmen musst! Achtung: Es trübt die Aufmerksamkeit, wenn Du Dir bereits während der Erzählung Deines Gegenübers überlegst, wie Du dazu stehst und antworten wirst. Nimm Dir also Zeit zum Antworten und versuche nicht, alles was Du zu einem Thema sagen willst, auf einmal platzieren zu wollen. Komm in den Genuss des Nachfragens. Verständnisfragen haben das Potenzial, Deinem Gegenüber die Möglichkeit zu bieten, die jeweilige Aussage weiterzudenken. Sätze wie: „Ich denke darüber nach, dass...“, wirken einladend und entschleunigend. Vielleicht entstehen daraus ein gemeinsamer Gedankenaustausch und konsequentes Weiterdenken beider Haltungen. Die dürfen auch erst einmal ergebnisoffen und umstritten sein. Wenn Du trotz aktiven Zuhörens nicht zu Wort kommst, benenne es. Sätze wie dieser können Ruhe und Achtsamkeit in Gespräche bringen: „Mir geht das etwas zu schnell, können wir noch einmal auf Deine Äußerung zu XY eingehen?“
Es ist nicht wichtig, Dein Gegenüber gut einschätzen zu können, sondern anzuerkennen, dass Menschen Expert*innen in eigener Sache sind. Wenn Du Dein Gegenüber mit einer Interpretation zu seinen*ihren Gefühlen oder Ängsten konfrontierst, kann das sehr anmaßend wirken. Führe Dir vor Augen, dass Du keinen therapeutischen Auftrag hast. Bleibe also lieber bei Dir und sei Dir bewusst, dass Dein Bild von Deinem Gegenüber nicht stimmen muss. Damit ein wirkliches Umdenken bei Deinem Gegenüber eintritt, muss diese Person ohnehin selber darauf kommen. Deswegen kannst Du diesen Prozess nur unterstützen. Dazu kannst Du Fragen stellen, die zum Nachdenken anregen. Stütze Dich in Deiner Argumentation deswegen am besten auf das, was bereits vom Gegenüber gesagt wurde, indem Du es mit eigenen Worten wiedergibst. Wenn Du etwas nicht mehr genau weißt, bitte Deine*n Gesprächspartner*in, es noch einmal zu wiederholen. So können Missverständnisse vermieden werden.
Oft sind es die immer selben Parolen, die zum Thema Migration serviert werden. Manchmal offensichtlich hetzerisch, manchmal etwas hübscher verpackt. Dass es so weit verbreitet ist, kommt nicht daher, dass viele Leute nach ähnlichen Gedanken auf dieselben Schlüsse gekommen sind. Es kommt eher daher, dass die Dominanzgesellschaft, konservative Politik und Medien seit Jahren einen großen Einfluss auf das gesellschaftliche Meinungsbild haben. Lass Dich davon nicht abschrecken und fokussiere Dich darauf, dass der Dialog in Gang kommt. Denn das ist schon die halbe Miete. Deswegen solltest Du es Dir so leicht wie möglich machen und Themen ansprechen, zu denen Dein Gegenüber viel erzählen kann und Du leicht nachfragen kannst. Direkt mit dem Aufschlüsseln der Parolen anzufangen, ist nicht ratsam, da es leicht als überheblich wahrgenommen werden kann, wenn Du Deinem Gegenüber erklärst, wie sie*er beeinflusst wurde. Außerdem werden Eure Meinungen an dieser Stelle wahrscheinlich sehr weit auseinandergehen, was es schwer macht, interessierte Nachfragen zu stellen.
Dialogfähigkeit will geübt werden. Hole Dir daher gerne Unterstützung von Freund*innen, die vielleicht sogar in ähnlichen Situationen stecken oder diese Gesprächsanlässe zumindest kennen. Eine außenstehende Perspektive, die mit Deiner Beziehung zu Deinem Gegenüber nicht viel zu tun hat, kann hilfreich sein. Intensiv über alle Eventualitäten in der Vorbereitung und über den tatsächlichen Gesprächsverlauf im Anschluss zu reden und zu reflektieren, ist hierbei der Schlüssel zu einem soliden und individuellen Werkzeugkoffer. So könnt Ihr gegenseitig aus Euren Ideen und Erfahrungen lernen, aber Euch auch nach frustrierenden Gesprächen unterstützen.
Abwehrstrategien kennen als Werkzeug
In den folgenden zwei Abschnitten wirst Du rassistische Aussagen lesen. Weitere Themen, die negative Gefühle hervorrufen können, sind: Gewalt • Flucht • Tod • Menschenverachtung Vorurteile • Aus- und Abgrenzung Wir gehen auf diese Themen ein, um Parolen als solche zu enttarnen und zu entkräften. Wenn Du das nicht lesen möchtest, kannst Du diesen Teil einfach überspringen.
„Aber was ist mit der Arbeitslosigkeit von Deutschen, vor allem durch die Corona-Pandemie?"
WAS MÖCHTE DEIN GEGENÜBER DAMIT ERREICHEN?
Noch eben ging es darum, dass der Arbeitsmarktzugang für neuankommende Menschen viel zu stark kontrolliert und eingeschränkt wird, obwohl Arbeit einen wichtigen Stellenwert in Sachen Selbstwirksamkeit, Unabhängigkeit und gesellschaftlicher Teilhabe hat. Die oben angeführte Aussage lenkt dabei vom eigentlichen Problem mit Hilfe von Whataboutism ab (frei übersetzt: „Aber was ist denn mit ...?“). Tatsächlich bringt speziell diese Aussage zwei Menschengruppen in Konkurrenz zueinander. Dahinter steht meist der Versuch, die eine Gruppe gegen die andere auszuspielen. Beide Anliegen sind wichtig und haben ihre Berechtigung, trotzdem sollte ein Thema nicht dazu dienen, das andere zu beenden.
WIE KANNST DU DARAUF REAGIEREN?
—> Ablenkungsmanöver benennen und zurück zum eigentlichen Thema kommen. Arbeitslosigkeit ist ein generelles Problem und bietet viel Gesprächsstoff. Hier geht es aber gerade um die rechtliche Beschränkung der Arbeitserlaubnis für neuankommende Menschen. Klar gibt es noch andere Probleme, aber das macht Euer eigentliches Thema nicht weniger relevant. Lass Dich also nicht ablenken und erkläre, warum es keinen oder einen nicht relevanten Zusammenhang gibt. Im Zweifelsfall kannst Du den Mechanismus von Whataboutism benennen und auf das eigentliche Thema verweisen.
Dein Gegenüber springt von einem persönlichen Erlebnis mit einem neuankommenden Menschen zu der Aussage, dass „ja alles teurer wird“, macht einen Abstecher bei der Grundsatzfrage zur politischen Mitbestimmung, weitet das Ganze bis zur sozialen Gerechtigkeit „für Deutsche“ aus und kommt abschließend wieder auf die vermeintlich kriminellen neuankommenden Menschen zurück. Oft ähneln die Aussagen einer Aneinanderreihung von Überschriften aus der Boulevardpresse.
WAS MÖCHTE DEIN GEGENÜBER DAMIT ERREICHEN?
Behauptungen gut zu begründen, ist schwierig. Deshalb werfen Menschen oft viele Themen zusammen, die sich scheinbar gegenseitig stützen. Sie springen (Englisch: “to hop“) von einem Thema zum nächsten. So müssen einzelne Aussagen nicht begründet werden und der angebliche Zusammenhang verwirrt und überfordert. Durch das Herunterrattern verschiedener Themen wird zudem versucht, die eigene Abwehrhaltung zu Migration zu rechtfertigen. Das macht die einzelnen Aussagen jedoch nicht richtiger.
WIE KANN ICH DARAUF REAGIEREN?
—> Themenhopping benennen und auf ein Thema bestehen Auf die Menge an unterschiedlichen Themen gleichzeitig reagieren - unmöglich! Bestehe auf das anfängliche Thema (oder das Thema, bei dem Du Dich am besten informiert fühlst) und lass Dich nicht auf eine Diskussion über all die anderen kurz angeschnittenen Themen ein - auch wenn es Dir wichtig ist, sie richtigzustellen. Bei diesem Abwehrmechanismus muss zwischen aktiv und passiv unterschieden werden.
• Beim aktiven Themenhopping handelt es sich um eine gezielte Verwirrungstaktik, oft auch in Kombination mit einer aggressiven Körpersprache. Wenn das der Fall ist, versuche, elegant aus der Situation zu kommen, denn meist ist hier kein weiteres Gespräch mehr möglich. Es geht für Dein Gegenüber ums Gewinnen wollen.
• Beim passiven Themenhopping ist die Person wirklich nicht in der Lage, seine*ihre Position anders zu vertreten und wirkt selbst emotional überwältigt von all den Themen und ihrer Vermischung. Trotzdem scheint sie eine Menge davon ausdrücken zu wollen. Hier kannst Du der Person Unterstützung anbieten, um ihre Gedanken zu entwirren. Ihr eine Verwirrungstechnik vorzuwerfen, ist dabei nicht hilfreich. Sätze wie beispielsweise: „Moment, ich komme gerade nicht mit. Lass uns mal über Deine XY Aussage sprechen...“ können hier stattdessen den Einstieg bieten.
„Aber wir können doch nicht alle aufnehmen.”
WAS MÖCHTE DEIN GEGENÜBER DAMIT ERREICHEN?
Beim Strohmann-Argument handelt es sich um eine vermeintlich sachliche Aussage, die Teile Deines vorherigen Arguments enthält und sie überspitzt oder stark verzerrt. Die Person argumentiert also mit einem ausgedachten ‚Strohmann‘, in diesem Falle „alle würden aufgenommen werden“. —> Hier wird eine Realität erschaffen, die de facto nicht stimmt. In dieser Realität kann Dein Gegenüber argumentativ seine*ihre Linie fahren, während Du das Gefühl bekommst, Dich argumentativ in eine Sackgasse bewegt zu haben. Doch erkenne, dass Du diese Aussage so nie getroffen hast und dass Du gegen einen ‚Strohmann‘ nicht argumentieren kannst! In dieser Aussage beispielsweise wird der Begriff ‚alle‘ zu einer übermächtigen Gegebenheit inszeniert. Allerdings stand nie im Raum, ‚alle‘ aufzunehmen, und wer sind eigentlich alle? So lange der Strohmann als solcher nicht aufgedeckt wird, bewahrt er den Schein des sachlichen Arguments. Achtung: Der Strohmann ist nicht immer leicht zu erkennen, es braucht dafür Übung und Faktenwissen. Unterschieden werden muss auch hier in aktiv und passiv:
• Wenn diese Abwehrstrategie aktiv angewandt wird, soll Angst vor einer unbestimmten und vermeidlich großen Anzahl von Menschen auf der Flucht gemacht werden. Der Begriff der sogenannten ‚Flüchtlingswelle/ -krise‘ zählt hier dazu, da ein naturkatastrophenähnlicher Zustand beschrieben wird, den es abzuwenden gilt.
• Passiv oder unbewusst ist er, wenn die Person selber auf einen Strohmann hereingefallen ist und diese Strategie lediglich erneut wiedergibt.
WIE KANNST DU DARAUF REAGIEREN?
—> Wenn Du merkst, dass es sich um einen aktiven Strohmann handelt, bitten wir Dich, aufzupassen. Zudem erinnern wir noch einmal an unseren Grundsatz: ‚Wir bieten Nazis keine Bühne.‘ Beim passiven solltest Du Deinem Gegenüber spiegeln, wie mit diesem Argument Angst produziert werden soll oder generell getäuscht wird. Drösel das Argument mit Faktenwissen auf.
Alle kümmern sich nur noch um Flüchtlinge und für Obdachlose ist nichts übrig.“
WAS MÖCHTE DEIN GEGENÜBER DAMIT ERREICHEN?
Hier werden zwei Themen, die nicht zusammenhängen, verknüpft. Dies ist ein typisches Argumentationsmuster beim Thema Migration. Es suggeriert, dass es z.B. einen festen Betrag im Staatshaushalt gäbe, der für alle, die finanzielle Unterstützung benötigen, zur Verfügung steht. Ist dieser Betrag einmal aufgebraucht, gibt es nichts mehr und manche gehen leer aus. Am Ende geht es um Ablenkung vom eigentlichen Thema.
WIE KANNST DU DARAUF REAGIEREN?
—> Benenne die unterschiedlichen Ebenen/ Themen und komme zurück zum eigentlichen. Hier werden zwei sozial benachteiligte Menschengruppen gegeneinander ausgespielt. Es ergibt sich eine gute Chance für Dich, zu einem Konsens zu kommen, denn Dein Gegenüber denkt sozial, wenn auch entfernt vom eigentlichen Thema. Obdachlosigkeit, Pflegekräftemangel und andere soziale Probleme sind, genauso wie Migration, erst Probleme geworden: Durch jahrelanges politisches Wegschauen und aktiven Abbau des Sozialstaates. Nutze die offene Tür, um diese Zusammenhänge klarzustellen und zu platzieren. Eine faire und humanitäre Sozialpolitik würde der gesamten Gesellschaft zugutekommen und dem Sozialabbau etwas entgegensetzten.
„Wir müssen uns vor der Flüchtlingsflut schützen - also Grenzen dicht machen.“
WAS MÖCHTE DEIN GEGENÜBER DAMIT ERREICHEN?
Das Wort ‚Flüchtlingsflut‘ (oder ‚Flüchtlingswelle‘, ‚Flüchtlingskrise‘) lenkt den Fokus weg von den individuellen Schicksalen der Menschen auf der Flucht. Durch das Bild der ‚Flut‘ werden sie stattdessen selbst als Gefahr dargestellt. Und wie sollte man auf Naturereignisse wie eine Flut reagieren? Klar, indem man sich abschottet („die Grenzen dicht macht“). Rechtspopulistische Sprachbilder beschreiben die Realität gezielt so, dass bestimmte, radikale Maßnahmen plausibel erscheinen sollen.
WIE KANNST DU DARAUF REAGIEREN?
—> Sprachbilder erkennen, vermeiden und aufdecken! Rechtspopulistische Sprachbilder erzielen eine bestimmte Wirkung und sind bereits weit in die Alltagssprache vorgedrungen. Du kannst versuchen, Sprache selbst zum Thema zu machen: Frag nach, warum Dein Gegenüber manche Begriffe und Sprachbilder benutzt. Deckt gemeinsam auf, welchen Ursprung sie haben und was sie aus welchem Grund schaffen. Es geht dabei darum, dass die Person selbst erkennen kann, wie sie beeinflusst wurde. Hetzerische Sprachbilder laden besonders dazu ein, ihnen mit Faktenwissen zu begegnen. Aber pass dabei auf, nicht zu belehrend zu wirken. Ein langer theoretischer Monolog über die Wirkung bestimmter Aussagen Deines Gegenübers wird Euren Dialog sicher zum Erliegen bringen.
„Wir Deutschen arbeiten hart, jeden Tag, und sollen nun alle darunter leiden, dass so viele Geflüchtete zu uns kommen.“
WAS MÖCHTE DEIN GEGENÜBER DAMIT ERREICHEN?
Die Forderung nach Abschottung rechtfertigen! Hier wird behauptet, die Meinung aller zu vertreten. So soll der Forderung mehr Gewicht verliehen werden. Außerdem haben wir eine klare Rhetorik von ,Wir‘ gegen ,die Anderen‘, dadurch, dass vermeintlich ‚alle‘ Deutschen negativ betroffen sein sollen.
WIE KANNST DU DARAUF REAGIEREN?
—> Nachfragen und korrigieren Die deutsche Gesellschaft ist super vielfältig. Es ist unmöglich und anmaßend, für 83,1 Millionen Menschen in Deutschland zu sprechen. Frag nach, wer gemeint ist. Und versuche herauszufinden, was für die Person hinter der Aussage stehen könnte.
„Ich sehe das bei meinen Nachbarn jeden Tag: Flüchtlinge sind faul und wollen gar nicht arbeiten.“
WAS MÖCHTE DEIN GEGENÜBER DAMIT ERREICHEN?
Mit einem Einzelfall ein rassistisches Vorurteil (pseudo-)belegen! Menschen mit derart starken Vorurteilen sind schwierige Gesprächspartner*innen. In diesem Fall nutzt Dein Gegenüber eine Erfahrung mit einer einzelnen Person, um eine allgemeine Aussage über eine große und vielfältige Personengruppe zu begründen. Dein Gegenüber legt dabei seine Erfahrung so aus, dass sich ihre*seine Meinung bestätigt. Es gibt sicherlich auch andere Perspektiven auf die vorgefallene Situation.
WIE KANNST DU DARAUF REAGIEREN?
—> Den Fehlschluss darstellen Stelle den Fehlschluss so schnell wie möglich klar und zeige auf, wie vorurteilsbehaftet und haltlos solche Argumente sind. Wenn darauf weitere Argumente kommen, wie beispielsweise: „Das habe ich auch schon von anderen gehört!“, dann frage, von wem genau. Auch zwei oder noch mehr Aussagen sind noch keine Belege für das Verhalten von ganzen Personengruppen. Versuche, hier an seine*ihre eigene Person zu appellieren und frage, ob Dein Gegenüber Lust darauf hätte, mit Vorstellungen von ‚Alle Deutschen sind so (z.B. Nazis)‘ herabgesetzt zu werden und dafür geradestehen zu müssen. Wenn du merkst, dass Dein Gegenüber an einem ernsten Gespräch nicht interessiert ist und nur seine*ihre rassistischen Vorurteile verbreiten möchte, dann ist das Grund genug, das Gespräch abzubrechen. Denn es geht nicht darum, rassistischen Aussagen eine Bühne zugeben.
Rassistische Parolen entkräften
Hier haben wir weitere rassistische Parolen gesammelt - inklusive einer Einordnung und beispielhafter Möglichkeiten, wie Du drauf reagieren kannst, wenn Dein*e Gesprächspartner*in sie verwendet. Dabei möchten wir Dich wissen lassen, dass wir uns schwer damit getan haben, diese Parolen aufzunehmen, da hinter jeder eine massive Abwertung von Menschen steht. Wir haben viel darüber gesprochen und nachgedacht, wie das am besten umgesetzt werden kann. Uns wäre es lieber, solche Aussagen zu vergessen und einfach auf starke Argumente und progressive Vorschläge zu bauen. So leicht ist das leider nicht. Diese Parolen legen es darauf an, Angst und Vorurteile zu schüren, und versuchen, dabei nicht auf einer sachlichen, sondern einer emotionalen Ebene zu landen. So haben sie schon längst in weiten Teilen der Dominanzgesellschaft einen etablierten Platz gefunden. Deswegen werden Dir sicher ein paar Parolen (im Wortlaut variabel) bekannt sein. Räume endgültig mit ihnen auf und nimm Deine Gesprächspartner*innen mit in den sachlichen Dialog!
Rassistische Parolen:
AUFFÄLLIGKEITEN IN DIESER AUSSAGE:
• Abgrenzung von einem ‚Wir‘ und einem ‚Migrationsandere‘: ‚Wir‘ haben einen Nachteil/ Schaden, wenn ‚wir‘ ‚die Anderen‘ aufnehmen.
• Gegenseitiges ausspielen von Menschengruppen. Verblendungs-Taktik, die ablenken soll vom schlechten Zustand des deutschen Sozialsystems und der Unfähigkeit der Politik, ihn zu ändern. —> Geflüchtete Menschen als Sündenbock. nun, da sie nun durch das Infektionsrisiko durch neuankommende Menschen vermeintlich selber betroffen sind.
• Wirtschaftsfokussierte Pull-Rhetorik: Behauptung, dass Menschen auf der Flucht nur nach Deutschland wollen, um sich in dem Sozialsystem ‚auszuruhen‘.
WAS KÖNNTE DAHINTERSTECKEN:
• Angst vor Verschlechterung des eigenen Lebensstandards, Bedürfnis nach Sicherung des Lebensstandards
• Menschen auf der Flucht sollen sich nicht darauf ‚ausruhen‘ dürfen, was ‚andere‘ erreicht haben, Bedürfnis nach vermeintlicher Fairness.
REALE POLITIKEN IN VERBINDUNG ZU DER PAROLE:
2019 wurde das Asylbewerberleistungsgesetz §222 so reformiert, dass Leistungen für alleinstehende Erwachsene in Sammelunterkünften sowie für Volljährige unter 25, die mit ihren Eltern in einer Wohnung leben, gekürzt wurden.
MÖGLICHE REAKTION AUF SOLCHE AUSSAGEN:
Vorweg wollen wir deutlich machen, dass wir nichts von der kapitalistischen Verwertungslogik von Menschen im Allgemeinen halten. Ethisch lässt sich nicht vertreten, dass der Wert eines Menschen in Deutschland rein an seiner Möglichkeit, Kapital zu generieren, gemessen wird. Das gilt auch für Neuankommende aus dem globalen Süden, die ein Recht auf Schutz und Unterstützung haben. Denn das Asylsystem sorgt dafür, dass Menschen oft über Monate oder gar Jahre (bis zur Klärung des Aufenthaltsstatus) abhängig vom Sozialsystem gemacht werden. Mit enthalten ist eine fast vollständig fehlende Selbstbestimmung und eine äußerst ungewisse Zukunftsperspektive.24 Wenn der Aufenthaltsstatus es zulässt, bleibt den Betroffenen oft nur die Wahrnehmung von unsicheren Arbeitsverhältnissen. Hier zeichnet sich deutlich eine koloniale Kontinuität ab, die wir in aller Deutlichkeit als rassistisch bezeichnen wollen. Generell steht fest, dass Menschen auch vor massiver psychischer und physischer Bedrohung fliehen und/oder diese auf der Flucht erleben. Es ist unwahrscheinlich, dass sie den meist gefährlichen Fluchtweg für Sozialleistungen in dieser Höhe auf sich nehmen. Vielmehr suchen sie einen Ort, an dem sie sicher sind und selbstbestimmt leben können.25 Themen wie Pflegekräftemangel, Obdachlosigkeit und Armut sind zweifellos Probleme im deutschen Sozialsystem. Sie existieren jedoch unabhängig von Migrationsbewegungen oder steigender Zuwanderung nach Deutschland, da der Sozialabbau in den letzten Jahrzehnten zunehmend von den Bundesregierungen vorangetrieben wurde. Es ist eine typische Rhetorik, diesen Abbau darzustellen, als seien Leistungen zu teuer und als verschwänden diese dann in den Geldbeuteln der Bezieher*innen. Die deutsche Wirtschaft ist wesentlich komplexer. Sozialleistungsempfänger*innen und Menschen mit einem geringen Einkommen verkonsumieren ihr gesamtes Einkommen meist jeden Monat, was natürlich die Wirtschaft unterstützt. In Bezug auf das Sozialsystem kann man also sagen, dass das Asylsystem anders strukturiert wäre als jetzt, wenn es einzig um Geld ginge.
Wem der Zustand unseres Sozialsystems wirklich wichtig ist, sollte sich gegen den Sozialabbau der letzten Jahre stellen und gegen die Erzählung arbeiten, die soziale Dienste und ihrer Leistungen ausschließlich in Geld ausdrücken. Stattdessen sollte sich dafür stark gemacht werden, den gesellschaftlichen Nutzen und die Menschen innerhalb dieses Systems mehr zu sehen. Die Kämpfe um soziale Gerechtigkeit entwickeln mehr Wirkung, wenn sie zusammen gedacht werden, anstatt einzelne Gruppen gegeneinander auszuspielen.
AUFFÄLLIGKEITEN IN DIESER AUSSAGE:
• Eine wahre Aussage, die jedoch keinen wahren Kern hat. Die reale Situation, ‚alle‘ aufzunehmen, existiert nicht.
• Angst vor einem Zusammenbruch des Sozialsystems bzw. ‚Wegnehmen‘ von Geld durch neuankommende Menschen und dadurch Verlust des Lebensstandards
• Angst vor einer Veränderung der Gesellschaft mit negativen Folgen für die eigene Person
REALE POLITIKEN IN VERBINDUNG ZU DER PAROLE:
Faktisch werden nicht ‚alle‘, sondern nur wenige aufgenommen. Landesaufnahmeprogramme wie z.B. von Berlin oder Thüringen werden vom CSU-geführten Bundesinnenministerium blockiert, die EU schließt Abkommen zur Migrationsabwehr mit anderen Staaten und arbeitet mit der ‚libyschen Küstenwache‘ zusammen, um durch illegale Pull-Backs Menschen an der Reise nach Europa zu hindern.
MÖGLICHE REAKTION AUF SOLCHE AUSSAGEN:
Am besten stellst Du diese Aussage so schnell wie möglich richtig: Es wurde nie gefordert, dass Deutschland ‚alle‘ aufnehmen soll, und wer sind denn ‚alle‘? Schon die Konstruktion dieses Arguments ist darauf ausgelegt, Angst zu machen mit einem Bild von einer unbekannten Masse an Menschen, die alle nach Deutschland wollen. Falls Du zusätzlich mit Fakten auf diese Aussage reagieren willst, hier ein paar Anregungen: Mit 1.146.685 Menschen mit anerkanntem Aufenthaltstitel liegt Deutschland im globalen Vergleich auf Platz fünf der Aufnahmeländer, hinter Uganda (1,4 Mio.), Pakistan (1,4 Mio.), Kolumbien (1,8 Mio.) und der Türkei (3,6 Mio.). Von den ungefähr 80 Millionen Menschen auf der Flucht fliehen die meisten entweder innerhalb ihrer Heimatländer (Binnenflucht) oder in Nachbarstaaten. Weniger als 10% von ihnen leben in Europa. Außerdem ist die Anzahl der Asylanträge in Deutschland zwischen 2016 und 2020 von 745.000 auf 102.000 und damit um 87% gesunken - obwohl immer mehr Menschen auf der Flucht sind.26 Deutschland könnte weit mehr schutzsuchende Menschen aufnehmen. Dass auch die Aufnahmebereitschaft in Kommunen und Zivilgesellschaft groß ist, zeigt sich in Form von mittlerweile 267 Städten (Stand 13.08.2021), die sich zu Sicheren Häfen erklärt haben. #WirhabenPlatz!
! Je nach Gesprächsverlauf kannst Du versuchen, herauszufinden, welches wirklich ernstzunehmende Bedürfnis hinter der Aussage Deines Gegenübers stecken könnte. Je nach Bedürfnis verweisen wir auf die Parolen: Zusammenbruch des Sozialsystems und/oder Flüchtlinge klauen unser Geld. Um rein auf die Strohmann-Rhetorik zu reagieren, können die oben genannten Fakten behilflich sein.
AUFFÄLLIGKEITEN IN DIESER AUSSAGE:
• Eindimensionale Betrachtung und Darstellung statistischer Fakten.
• Außerdem wird der inszenierten Kriminalisierung von Menschen unhinterfragt geglaubt. Bei dieser Betrachtung fehlt ein Verständnis für mögliche zugrundeliegende Faktoren wie z.B. Lebenslage oder Traumatisierung. Was wird hier überhaupt als ‚kriminell‘ eingestuft?
• Stigmatisierung und Pauschalisieren von neuangekommenen Menschen, welche die Vorurteile und den gesellschaftlichen Ausschluss tragen müssen
• Die individuell Tat einzelner wird auf eine ganze Gruppe an Menschen projiziert. Wer zu dieser Gruppe gehört legt dein Gegenüber fest.
WAS DAHINTER STEHEN KÖNNTE:
• Bedürfnis nach Sicherheit
• Bedürfnis nach Stabilität und Ordnung
• Bedürfnis nach Unschuld im Kontrast: Die kriminellen ‚Anderen‘ in der Gegenüberstellung eines ‚Wir‘, das vermeidlich immer im Rahmen der Rechtsstaatlichkeit handelt.
REALE POLITIKEN IN VERBINDUNG ZU DER PAROLE:
Solche pauschalen Einstellungen führen zur Ausübung institutionell rassistischer Handlungen gegenüber neuankommenden Menschen, z.B. durch Racial Profiling29 (ethnisierendes/ rassistisches Profilerstellen) von Polizist*innen und anderen Beamt*innen. Dies beinhaltet auch die Legitimierung bzw. Verschleierung solcher Verhaltensweisen durch Politiker*innen, wie etwa Horst Seehofer/ CSU, der eine unabhängige Untersuchung zu rassistischen Strukturen in der Polizei kategorisch ablehnt.30 Gleichzeitig stützen solche Vorstellungen die Bemühungen in Sachen Migrationsabwehr.
MÖGLICHE REAKTION AUF SOLCHE AUSSAGEN:
Wir haben uns bei der Beschäftigung mit dieser Aussage viel mit Kriminalstatistiken auseinandergesetzt. Dennoch wollen wir sie als Möglichkeit zur Dekonstruktion solcher Aussagen nur ungern bemühen. Warum? Solche Statistiken sind schwer zu interpretieren und hängen maßgeblich an der dahinterstehenden Frage und den Datensätzen, die erhoben und ausgewertet wurden. Entscheidend ist auch, wer die Statistik erhebt und was herausgefunden werden soll. Generell gilt bei Statistiken: Vorsicht! Denn für uns gibt es Unterschiede in der Wertung, was als ‚kriminell‘ gilt. Liegt hinter dem Status ‚kriminell‘ ein abgelehntes Bleiberecht und somit der Status, illegalisiert in Deutschland zu leben, der Diebstahl einer Packung Kaugummis oder körperliche Übergriffe? Ein weiterer Faktor, der die Statistik verzerrt, ist das Anzeigeverhalten. Menschen tendieren dazu, Personen mehr als doppelt so häufig anzuzeigen, wenn diese als ‚fremd und migrantisch‘ wahrgenommen werden. Durch all diese Gründe sind neuankommende Menschen in der Statistik überproportional aufgenommen und somit sichtbarer als andere. Das wiederum schürt weiter Rassismus, was wiederum zu einer höheren Bereitschaft führt, diese Menschen anzuzeigen und so weiter. Hier entsteht ein gefährlicher Kreislauf. 31 Was wir jedoch eindeutig sagen können ist, dass es bei dieser Thematik nicht um Herkunft geht, sondern um Menschen mit ihrer jeweiligen Sozialisation, ihren Erfahrungen und Lebensumständen. Das heißt soviel wie: Anteilig sind neuankommende Menschen nicht krimineller als Teile der Dominanzgesellschaft. Als ein Beispiel zur Auflösung dieser Erzählung greifen wir hier einmal die unsäglichen Debatten um die sogenannte ‚Köln-Silvesternacht‘ auf. Diese Inszenierung von sexualisierter Gewalt durch sogenannte ‚südländisch aussehende Typen‘ macht deutlich, was oftmals hinter den Bemühungen nach der vermeintlichen Beweisführung solcher Statistiken und Vorurteile steckt: Der Wunsch nach und die Inszenierung von Unschuld und angeblicher Fortschrittlichkeit der Dominanzgesellschaft. Der Sexismus der ‚migrantisierten Anderen‘ wird so zum Aufhänger, um den männlich-weißen Teil der Dominanzgesellschaft als ‚Verteidiger‘ der deutschen Frauen in Szene zu setzen.32 Dabei wird das Thema Sexismus, sexualisierte Gewalt und Femizide sowie toxische Männlichkeit als allgemeines Problem der Gesellschaft und unabhängig von kulturellen Hintergründen unsichtbar gemacht, indem es ausschließlich der Kultur der ‚Anderen‘ zugeschrieben wird.33 Wichtig wäre eine Debatte, die diese Machtverhältnisse unabhängig von Herkunft diskutiert.
AUFFÄLLIGKEITEN IN DIESER AUSSAGE:
• Es wird ein reflektierter Umgang vorgetäuscht, worin angebliche Symptome (Migration) von Ursachen (Fluchtursachen) getrennt werden
• Diese Parole ist mit einer eurozentristischen Haltung verknüpft und baut die Vorstellung von vermeintlicher Rückständigkeit und ausschließlicher Hilfsbedürftigkeit mit auf.
• Mit der Idee‚ vor Ort zu ‚helfen‘, wird eine Trennung zwischen Deutschland und den Herkunftsstaaten der geflüchteten Menschen gezogen. Die Probleme müssten demnach nicht mit einem Bewusstsein für koloniale Kontinuitäten und einer Verantwortungsübernahme von Deutschland gelöst werden. Vielmehr bleibt der Fokus auf der Verantwortung von Ländern des globalen Südens. Sie werden als rückständig und die deutsche Dominanzgesellschaft als gute Helfer*in inszeniert.
• Die Unterstellung einer vermeintlich einfachen Lösung ohne das Zusammendenken komplexer Zusammenhänge und globaler Mechanismen
WAS DAHINTER STEHEN KÖNNTE:
• Bedürfnis nach Stabilität (keine Veränderungen in Deutschland)
• Bedürfnis nach einer lösungsorientierten Migrationspolitik
• Bedürfnis nach der Inszenierung des guten und helfenden Menschen oder einer solchen Gesellschaft
• Bedürfnis nach Auslagerung
REALE POLITIKEN IN VERBINDUNG ZU DER FLOSKEL:
„Je restriktiver die Zuwanderungspolitik ist, desto großzügiger muss die Bekämpfung der Fluchtursachen sein“, Horst Seehofer. Hier versucht der CSU-Politiker, Migrationsabwehr zu rechtfertigen und inszeniert sich gleichzeitig als ‚guter Helfer‘.
MÖGLICHE REAKTION AUF SOLCHE AUSSAGEN:
Sogenannte ‚Entwicklungszusammenarbeit‘ strebt häufig Fluchtursachenbekämpfung und insbesondere Migrationsabwehr an. Oft wird die ‚Hilfe‘ an Bedingungen geknüpft: Staaten müssen ihre Grenzen überwachen und Migration bekämpfen, um Gelder zu erhalten. Außerdem geht ein Großteil der Gelder in Programme, die eine ‚freiwillige‘ Rückkehr von Menschen auf der Flucht in ihre Herkunftsländer zum Ziel haben. Mehr dazu in: Ausgelagert! Migrationsabwehr - Ein Blick auf den afrikanischen Kontinent. Damit sind die eigentlichen Fluchtursachen nicht behoben. Die Gründe, warum Menschen ihre Heimat verlassen, sind komplex. Auch Ansätze in der ‚Entwicklungszusammenarbeit‘, die sich beispielsweise vereinzelt auf Armut, kriegerische Auseinandersetzungen oder klimatische Veränderungen beziehen, greifen zu kurz. Langjährige Konflikte oder Kriege sind nicht im Handumdrehen lösbar. Darüber hinaus werden viele der Fluchtursachen von Menschen in Deutschland und der EU verursacht. Beispielsweise durch Lebens- und Konsumweise, Wirtschafts- und Klimapolitik, Waffenexporte, Handelspolitik und menschenrechtswidrige Produktionen in Drittstaaten. Deutschland und die EU zerstören Lebensgrundlagen in anderen Regionen der Welt.
! Besonnenes Handeln und der Wille, sich für bessere Lebensbedingungen von Menschen einzusetzen, sind generell nicht zu kritisieren. Die vermeintlich einfache Lösung, durch ‚Entwicklungszusammenarbeit‘ die Lebensbedingungen von Menschen im globalen Süden in kurzer Zeit umfassend zu verbessern, funktioniert aber leider nicht. Vor allem, solange wir ein kapitalistisches Wirtschaftssystem haben, das auf der Ausbeutung von Land und Mensch fußt.
Teil B
KEIN MENSCH IST ILLEGAL
In der gesellschaftlichen Debatte über Migration kommt vor allem ein Thema zur Sprache und zwar, dass ‚wir‘ ein Problem mit ‚irregulärer‘ oder ‚illegaler Migration‘ haben. So gilt es schon seit langem in der gesellschaftlichen Wahrnehmung als Tatsache, dass Deutschland und die EU sich spätestens seit 2015 in der sogenannten ‚Flüchtlingskrise‘ befänden. Wie die ‚Flüchtlingskrise‘ und ‚illegale Migration‘ hierbei politisch inszeniert wurden, erläutern wir jetzt.
Die Unterscheidung zwischen irregulärer (illegal) und regulärer Migration (legal) ist die Basis der europäischen und deutschen Migrationspolitik und des Konzepts des sogenannten ‚Migrationsmanagements‘. Aus diesem Politikansatz formulierte die EU drei Ziele für ihre Leitpolitik:
Die gezielte Förderung ‚legaler Migration‘ von Menschen, die als wirtschaftliche Ressourcen (Humankapital) verstanden werden, und im öffentlichen Diskurs mit Begrifflichkeiten wie ‚Fachkräfte‘ oder ‚Hochqualifizierte‘ betitelt werden.
Die Regulierung der besonders schutzbedürftigen Asylsuchenden.
Kurz-, mittel- und langfristige Maßnahmen zur Kontrolle der sogenannten ‚Krise‘, die von der ‚illegalen Migration‘ ausgelöst wurde.
Hier wird also eine Unterscheidung vorgenommen zwischen wertvollen Arbeitskräften, geflüchteten Menschen, die als besonders schutzbedürftig gelten, und ‚illegalen Migrant*innen‘ in Europa oder auf dem Weg dorthin. Letztere Gruppe wird der Schutzstatus abgesprochen. Unerwähnt bleibt häufig, dass es für die meisten Menschen aus Staaten des globalen Südens praktisch keine legalen Einreisemöglichkeiten in die EU gibt. So bleibt für viele Menschen nur der Weg über die ungeregelte Einreise, der gleichzeitig kriminalisiert und somit die rechtliche Grundlage zur Bekämpfung von Menschen auf der Flucht ist. ‚Illegal/ Illegalität‘ sind rechtlich konstruierte Begriffe, die Migrationsabwehr legitim erscheinen lassen. Schließlich handelt es sich in dieser Logik um etwas vermeintlich Verbotenes. Besonders problematisch an der öffentlichen Debatte um Migration ist die politische Darstellung von Migration in Politik und Medien als reiner Kostenfaktor und Sicherheitskrise. Diese Darstellung ist in der gesellschaftlichen Wahrnehmung verankert. Das erlaubt wiederum Maßnahmen zur Bekämpfung der sogenannten ‚illegalen Migration‘, indem illegalisierten Menschengruppen pauschalisierende Eigenschaften zu geschrieben werden wie Kriminalität, Terrorismus, sexuell übergriffiges Verhalten oder die Überlastung europäischer sozialer Sicherungssysteme. Diese Debatte wird auf einer emotionalen Ebene geführt, die das Bild von einem ‚Europa in der Migrationskrise‘ bestätigen soll. Halten wir also fest: Illegal ist nicht gleich illegitim! Es gibt viele Erzählungen, die dieses Konstrukt stützen. Ein Beispiel ist die Erzählung des sogenannten ‚Asylmissbrauchs‘. Hier wird behauptet, dass es eine angeblich beträchtliche Zahl von Menschen gibt, denen bewusst ist, dass sie keinen Anspruch auf Schutz haben. Die dennoch einen Asylantrag stellen und damit zu den Schuldigen der Überlastung des Asylsystems gemacht werden. In dieser Logik geht das zu Lasten der Menschen mit anerkanntem ‚Flüchtlingsstatus‘ (subsidiärer Schutz und damit legalisiert). So werden Menschen in schutzbedürftig und nicht-schutzbedürftig kategorisiert und gegeneinander in Stellung gebracht. Das Prinzip der ‚Schutzbedürftigkeit‘ im Asylsystem ist ein politisch festgelegtes Konstrukt, indem von außen festgelegt wird, was oder wer schützenswert ist und wer oder was nicht. Die Festlegung der Kriterien für eine Schutzbedürftigkeit entspricht weder der Realität, noch einem humanen Menschenbild. Es geht hierbei ausschließlich darum, einen weiteren Grund zu schaffen und zu erhalten, um vermeintlich gerechtfertigt gegen illegalisierte Migration vorzugehen. Ein weiteres Beispiel ist die Bekämpfung des sogenannten ‚Schlepperwesens‘. Das sind Menschen, die Überfahrten nach Europa organisieren. Diese meist kriminellen Gruppen werden als Ursache von Migration und Menschenhandel identifiziert, die es zu bekämpfen gilt. Vergessen wird häufig, dass der einzige Grund für ihre Existenz die bereits erwähnte Tatsache ist, dass es kaum legale Einreisemöglichkeiten gibt. Dass die Möglichkeit derartiger politischer Konstruktionen und Scheinlösungen besteht, ist nicht weniger als eine Untergrabung der europäischen Demokratie. Die derzeitige Migrationspolitik betrifft viele indirekt betroffene Menschen auch innerhalb der EU negativ. Nur eine Politik, welche die Problemlage realistisch einordnet und angeht, ist auch in der Lage, sie zu beenden! Was ist die eigentliche Krise hier? Ein tatsächlicher Skandal ist das Aussetzen von fundamentalen Menschenrechten und die bewusste Abschottung Europas. Durch die Illegalisierung der Migrationswege drängt die EU Menschen auf tödliche Fluchtrouten und nimmt das Sterben an den Außengrenzen in Kauf. Schaffen es Personen trotzdem, in einem europäischen Staat anzukommen, gehen die Unterdrückungsmaßnahmen weiter. Die EU steckt nicht in einer sogenannten ‚Flüchtlingskrise‘, sondern in einer Krise des Schutzes von Menschen auf der Flucht!
Ein weiterer Teil des oben benannten Konstruktes ist es, sich einem bestimmten Verständnis von Migrationsursachen zu bedienen. Das zeichnet sich vor allem durch eines aus: Flexibilität und Einfachheit. Grundlegend ist hierbei die Vorstellung, Migration durch sogenannte ‚Pull- und Push-Faktoren‘ erklären zu können. Push-Faktoren (engl. „to push“ schieben, drängeln, stoßen) bilden hierbei den vermeintlichen Fluchtgrund ab. Pull-Faktoren (engl. „to pull“ ziehen, anziehen, anlocken) sind alle Bedingungen im Aufnahmeland, die zur Migration vermeintlich anreizen. Hinzu kommt der Faktor, ob und inwieweit die eigentliche Migrationsbewegung gefährlich ist. Unterstellt wird eine Kosten-Nutzen-Rechnung der individuellen Migrationsentscheidungen. Sie ergibt sich aus dem Zusammenrechnen der Faktoren und missachtet damit allerdings die wirkliche Realität und Komplexität von Flucht. Flexibel ist dieses Verständnis dadurch, dass je nachdem wie stark oder schwach die Faktoren von der EU bewertet werden, damit flexibel erklärt werden kann, wie es zur Migration kommt. Die Push-Faktoren, bzw. reale Beurteilung der Situationen in den Herkunftsländern bleiben jedoch aus. Dadurch bleiben häufig nur Pull-Faktoren in der ‚Flucht-Ja?-Nein?- Rechnung‘ übrig. Dies bietet eine wissenschaftliche Grundlage, und damit eine Scheinlegitimität für die Abschottung Europas. Entsprechend fokussiert sich die europäische Migrationspolitik überwiegend darauf, möglichst abschreckend und entmutigend zu wirken. Die Pull-Faktoren sollen mit allen Mitteln verringert werden. Die darin steckende Logik lautet: Menschen auf der Flucht in und an den europäischen Grenzen muss es so schlecht wie möglich gehen, damit an alle nachfolgenden Menschen folgendes Signal gesendet wird: Eine Migration nach Europa lohnt sich nicht! So soll die Existenz von Camps und Hotspots, wie beispielsweise Moria, an den europäischen Außengrenzen genau diese Signale senden. Hier wird auf erschreckende Weise deutlich, dass der moralische Kompass vollständig fehlschlägt und das Recht auf Menschenrechte für Menschen auf der Flucht ausgesetzt wird. Die EU nutzt den Tod und das Leiden von Menschen, um keine Verantwortung für die tatsächlichen Ursachen für Migration übernehmen zu müssen.
Auch in der Kriminalisierung der Seenotrettung von staatlicher Seite aus wird mit der Pull- und Push-Logik argumentiert. Die hartnäckige Behauptung lautet: Zivile Seenotrettung motiviere mit ihrer bloßen Anwesenheit auf dem Mittelmeer Menschen dazu, nach Europa zu kommen. Diese Vorstellung ist absurd: Die Meere sind riesig und die Wahrscheinlichkeit, rechtzeitig aus Seenot gerettet zu werden, ist gering. Zudem ist den Menschen bewusst, dass es sich bei dieser Etappe ihrer Migrationsbewegung um eine der gefährlichsten handelt. Dies zeigt lediglich, dass der Migrationsdruck sehr hoch sein muss. Auch empirische Studien kommen mehrheitlich zu dem Schluss, dass es keinen Zusammenhang zwischen Seenotrettung und einer Zunahme von Flucht gibt. 2 Menschen aus Seenot zu retten, ist und bleibt #unverhandelbar!
! Soweit der Mensch in die Vergangenheit zurückschauen kann, hat es Migration gegeben. Migrationsbewegungen sind maßgeblich für so ziemlich alles, was uns umgibt und wie Menschen heute (zusammen-)leben.
Deutschland und die EU sind an der Entstehung von Fluchtursachen beteiligt. Ihre Handlungen haben Auswirkungen auf Menschen in anderen Weltregionen, vor allem in Ländern des globalen Südens. Hier zählen wir einige Fluchtursachen auf. Der heutige Wohlstand in Deutschland und Europa baut maßgeblich auf dem Kolonialismus auf. Keine Kolonialmacht Europas hat je die Verantwortung für die Versklavung von Menschen, die willkürliche Aneignung von Land und deren Folgen, die Massaker an Volksgruppen oder die Ausbeutung von Ressourcen übernommen. Das deutsche Kaiserreich beging Anfang des 20. Jahrhunderts einen systematischen Völkermord an den Herero und Nama im heutigen Namibia. Ein viel zu spätes Versöhnungsabkommen mit Namibia entstand erst, nachdem politischer Druck auch durch die betroffene Gruppe aufgebaut wurde. Allerdings wurden die von den Herero legitimierten Vertreter*innen nicht mit in die Verhandlungen der Versöhnung einbezogen. Das unverschämt niedrige finanzielle Angebot seitens der deutschen Regierung zur ‚Wiedergutmachung‘ des Völkermords verdeutlicht koloniale Kontinuitäten, in denen Deutschland den Rahmen bestimmt.
Die wirtschaftliche Ausbeutung hält bis heute an. Z.B. ist die sogenannte ‚Landnahme‘ eine gängige Praxis, bei der europäische Unternehmen mit lokalen oder staatlichen Machthaber*innen Verträge abschließen, um Land zu pachten oder zu kaufen. Seit Anfang der 2000er Jahre schloss die EU außerdem Freihandelsabkommen (sogenannte ‚Wirtschaftspartnerschaftsabkommen‘) mit einer Vielzahl afrikanischer, karibischer und pazifischer Staaten ab. Damit wird europäischen Firmen und Konzernen ein nahezu unbeschränkter und zollfreier Zugang zur Wirtschaft der jeweiligen Staaten ermöglicht. Dieses Abkommen ermöglicht Ausbeutung und nachhaltige Zerstörung von Land, Natur und Menschen. Mit industriell hergestellten Billigprodukten und den Agrar- und Fischerei-Subventionen der EU können die lokalen Produkte nicht konkurrieren. So werden Familien, Kleinbauern und viele andere Menschen gewaltsam ihrem Land und somit ihrer Existenzgrundlage beraubt. Wir sprechen hier von der gezielten Zerstörung fremder Binnenmärkte für den eigenen Profit. Kenia beispielsweise versuchte, sich gegen ein ähnliches Wirtschaftsabkommen zu wehren und wurde von der EU mit Strafzöllen belegt. Dieser immense Druck zwang die kenianische Regierung in die Knie und am Ende unterzeichnete sie. Ein solches Vorgehen zeigt eine deutliche koloniale Kontinuität, die die damalige Kolonialzeit nahtlos weiterführt. Auch die Rüstungsindustrie ist ein weiteres Zeugnis dafür, dass die europäische Wirtschaft an erster Stelle steht und Menschenrechtsverletzungen dabei bewusst in Kauf genommen werden. Die Bundesregierung erlaubt deutschen Unternehmen, Waffen in Staaten zu exportieren, die politisch instabil sind. Allein im ersten Halbjahr 2021 wurden Rüstungsgüter im Rekordwert von 2,296 Milliarden Euro genehmigt. Damit werden bewaffnete Auseinandersetzungen befördert und terroristische Organisationen und Milizen in ihrem Machterhalt unterstützt. Die Konsum- und Lebensgewohnheiten in Deutschland sind ebenfalls an der Schaffung von Fluchtursachen beteiligt. Es ist allgemein bekannt, dass Menschen im globalen Süden unter unwürdigen Umständen und für viel zu niedrige Löhne für kostengünstige Produkte auf dem europäischen Markt arbeiten. Auch das neu beschlossene Lieferkettengesetz schafft hier keine Änderung. Zum anderen wirkt sich der Lebensstil der Menschen in Deutschland ökologisch extrem negativ aus. Der menschengemachte Klimawandel mit seinen Folgen wird, neben Kriegen, bald einer der Hauptfluchtgründe sein. Konkret heißt das, dass Menschen ihr Zuhause oder ihre Existenzgrundlage aufgrund von Dürreperioden, der Ausbreitung der Wüste (Desertifikation) oder Überschwemmungen verlieren.
Vor diesem Hintergrund erscheint die Strategie, Menschen als sogenannte ‚Wirtschaftsflüchtlinge‘ abzustempeln, besonders perfide. Ihnen wird das Anrecht auf existenzsichernde und würdevolle Lebensverhältnisse abgesprochen. Auch die Deutungshoheit, welches Land als sogenannter ‚sicherer‘ Drittstaat gilt, liegt bei der deutschen politischen Dominanz. Dadurch werden auch unzählige Abschiebungen von Menschen in lebensbedrohliche Verhältnisse möglich.
Um zu verhindern, dass Menschen aus dem globalen Süden europä ischen Boden betreten und hier Asyl beantragen können, verlagern Deutschland und die EU mit verschiedenen Mitteln ihre Grenzen praktisch nach außen. Sie setzen sich bereits außerhalb von Europa für die Abwehr von Menschen in Fluchtbewegung ein. Deutschland z.B. lagert die Gewährung von Asyl auf andere europäische Staaten aus: Aufgrund der Dublin-Verordnungen ist das Land, in dem Menschen auf der Flucht zum ersten Mal in der EU registriert wurden, für das Asylverfahren verantwortlich. Da viele Menschen auf dem See- oder Landweg unterwegs sind, betreten sie zunächst Staaten an den EU-Außengrenzen – und nicht Länder wie Deutschland, Österreich, die Schweiz, die Niederlande, etc. im Inneren der EU. Eine Einreise mit dem Flugzeug ist nicht möglich, damit sind die Binnenländer aus der Verantwortung gezogen. So sind an den EU-Außengrenzen (wie z.B. auf den griechischen Inseln) große Lager entstanden. In diesen sogenannten ‚Hotspots‘ sind Menschen unter unwürdigen Bedingungen oft Jahre festgesetzt und warten auf ihr Asylverfahren. Wie eine Studie von medico international zum Lager Moria zeigt, werden Menschen auf der Flucht systematisch von der EU und ihren Mitgliedsstaaten entrechtet. Auch auf andere Länder verlagern Deutschland und die EU ihre Abwehr von Migration. So sagte die Türkei im Rahmen des sogenannten ‚EU-Türkei-Deals‘ zu, illegalisierte Abfahrten von Menschen auf der Flucht in Richtung der EU zu verhindern. Die EU zahlte dafür u. a. Milliarden an die Türkei. Ähnliche Abkommen gibt es auch mit Staaten in Afrika. Die EU schreckt auch nicht davor zurück, mit Diktator*innen und menschenrechtsverletzenden Gruppen zusammenzuarbeiten. So unterstützt die EU die sogenannte ‚libysche Küstenwache‘ mit Ressourcen. Auf die einzelnen Aspekte gehen wir im Folgenden ein.
! Die Auslagerung der Grenzen und der Migrationsabwehr verletzt Menschen- und Völkerrechte. Deutschland und die EU müssen diese Praktiken sofort beenden. Es braucht legale Möglichkeiten zur Migration nach Europa.
Um Migration bereits weit vor den europäischen Grenzen zu unterbinden, verpflichtet die EU afrikanische Staaten gegen finanziellen Aufwand zur Migrationskontrolle und -abwehr, wie das Netzwerk Migration Control berichtet. So ist z.B. in Niger seit 2016 - unter Druck der EU - der Transport von Menschen auf der Flucht im Norden des Landes verboten. Seit 2018 wird außerdem eine Grenzschutzgruppe aufgebaut und von der EU finanziert. Durch diese Entwicklungen werden die Fluchtrouten zunehmend gefährlicher. Um z.B. nach Libyen und damit weiter in Richtung Europa zu gelangen, müssen noch abgelegenere Wege genutzt werden. Diese liegen abseits von Kontrollposten und Patrouillen, auf oftmals unbefestigten Straßen und quer durch die Wüste. Es wird geschätzt, dass doppelt so viele Menschen in der Wüste ums Leben kommen wie derzeit auf dem Mittelmeer. Eine weitere Auswirkung ist, dass neue Fluchtrouten erschlossen werden, wie zurzeit die verhältnismäßig hoch frequentierte Route über den Atlantik auf die Kanarischen Inseln. Ähnliche Vereinbarungen zur Migrationsabwehr der EU bestehen beispielsweise auch mit dem Sudan und Eritrea. Hilfsgelder und sogenannte ‚Entwicklungszusammenarbeit‘ werden von Migrationsabwehrdienstleistungen abhängig gemacht Die Verknüpfung von sogenannter ‚Entwicklungszusammenarbeit‘ mit Migrationsabwehr zeigt sich darin, dass ein Großteil von europäischen Hilfsgeldern für Rückkehrmaßnahmen von Menschen auf der Flucht innerhalb des afrikanischen Kontinents vorgesehen sind. Seit 2017 sind in diesem Rahmen über 90.000 Menschen ‚freiwillig‘? zurückgekehrt. Tatsächliche Unterstützung in ihren Herkunftsländern erfahren nur ein Bruchteil der Rückkehrer*innen und auch diese Hilfen für Einzelpersonen können ihren Bedürfnissen oftmals nicht gerecht werden.
Frontex ist die europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache, die 2004 gegründet wurde. Ihr Auftrag ist die Kontrolle und der sogenannte ‚Schutz der Außengrenzen‘ der Europäischen Union bzw. des Schengenraums. In ihren Aufgabenbereich fallen die Überwachung von Migration und Einsätze zur Unterstützung von Mitgliedsstaaten vor Ort. Auch bei Seenotrettung und humanitären Notlagen unter Einhaltung geltenden Rechts (z.B. des Völkerrechts - eigentlich!) assistieren sie. Verschiedene Medien berichteten im Oktober 2020 in einer gemeinsamen Recherche, wie Frontex an mehreren rechtswidrigen Push-Backs auf dem Mittelmeer in unterschiedlichem Ausmaß beteiligt war.
Beteiligt war auch die deutsche Bundespolizei. Bei einem Push-Back werden Menschen in der Regel unmittelbar nach dem Überschreiten gewaltvoll über eine Grenze zurückgedrängt. Push-Backs verstoßen u.a. gegen die Europäische Menschenrechtskonvention vention. Außerdem wird Frontex-Beamt*innen vorgeworfen, Aussagen über erlebte Push-Backs von Menschen auf der Flucht zu verzerren und nicht wahrheitsgetreu wiederzugeben. Wie aus einem Schreiben an den Frontex-Verwaltungsrat hervorgeht, stellt sich das deutsche Innenministerium unter dem CSU-Politiker Horst Seehofer deutlich gegen die Einrichtung einer unabhängigen Arbeitsgruppe, die diese Vorfälle untersuchen soll. Statt auf Aufklärung setzt die EU auf Aufstockung. Das Personal der Agentur soll bis 2027 auf 10.000 Beamt*innen erweitert werden. Zum Vergleich: 2021 sind es noch ca. 1.000 Beamt*innen. Seit 2005 ist das Frontex-Budget um 7566% gestiegen (kein Druckfehler). Auch das Tragen einer Handfeuerwaffe soll für die Grenzbeamt*innen möglich gemacht werden. Gemäß eines neuen Mandates von 2019 darf Frontex auch Flugzeuge und Drohnen zur Automatisierung der Grenzüberwachung verwenden. Die Automatisierung der Grenzüberwachung wirft ernste Fragen hinsichtlich der Einhaltung der Menschenrechte auf. Besonders der Drohneneinsatz birgt die Gefahr der zusätzlichen emotionalen Distanzierung zu den Menschen in Seenot, da diese aus der Ferne über einen Monitor gesteuert werden. Und das alles, obwohl Journalist*innen, NGOs und Forschungsgruppen zahlreiche Beweise von Frontex-Beteiligungen an Entführungen, Körperverletzungen, Aussetzungen von Menschen auf hoher See, Lebensbedrohungen, Mord und Abschiebungen in unsichere Länder veröffentlichen. Seit diesem Jahr läuft eine Klage gegen Frontex vor dem Europäischen Gerichtshof. Drei NGOs klagen im Namen von zwei betroffenen Personen, die auf der griechischen Insel Lesbos gewaltsam angegriffen, ausgeraubt und auf Flößen ohne Wasser, Essen und Orientierungsmöglichkeiten auf dem Meer ausgesetzt wurden. Welches Fazit lässt sich also zu Frontex ziehen? Die Agentur, die sich den Grenzschutz von Europa auf die Fahne schreibt, verletzt massiv Menschenrechte und stellt den ausführenden Arm einer rassistischen Festung Europas dar. Nicht umsonst fordert ein europaweites Bündnis verschiedener aktivistischer Gruppen: Schafft Frontex ab - #AbolishFrontex!
Dass die Europäische Union und ganz vorne mit dabei die amtierende Bundesregierung die sogenannte ‚libysche Küstenwache‘ beauftragt und finanziert, ist hinlänglich bekannt. Doch werfen wir gemeinsam einen Blick auf das Vorgehen und die Struktur dieser Organisation, deren hauptsächliches Mandat es ist, Migration um jeden Preis zu verhindern. Erstmals wurde die libysche Marine 2013 zum Ausbau der europäischen Grenzsicherung durch die European Union Border Assistance Mission in Libya (EUBAM Libya) mobilisiert. Ab 2016 wurde in die Zusammenarbeit unter der Überschrift Bekämpfung von sogenannten ‚Schleuserstrukturen‘ sowie für Such- und Rettungsmissionen intensiviert. Alleine 2017 zahlte die EU hierfür 46 Millionen Euro an die sogenannte ‚libysche Küstenwache‘ die u. a. in die Technisierung und in die Etablierung einer Koordinierungsstelle für ihre Operationen floss. Ob und wo eine solche Koordinierungsstelle eingerichtet wurde, ist der Bundesregierung, einer Anfrage zufolge, bis heute nicht bekannt. Zudem wurden Angehörige libyscher Milizen mit diesen Geldern ausgebildet. Die Liste der bewiesenen Vergehen der sogenannten ‚libyschen Küstenwache‘ ist lang. Die dokumentierten Vorwürfe der Involvierung in Korruption, illegale Push-Backs in libysche Folterlager und gewaltvollem Vorgehen gegenüber Menschen auf der Flucht sind vielfach. Zudem berichten Menschen auf der Flucht wiederholt, dass sie Angehörige der sogenannten ‚libyschen Küstenwache‘ als diejenigen wiedererkennen, die sie nachts an Bord eines der unsicheren Boote brachten. Auch Berichte über Schiffsmanöver der sogenannten ‚libyschen Küstenwache‘, die die in Seenot befindlichen Boote zusätzlich in Gefahr bringen, sind ebenso zahlreich. Dazu gehören Drohgebärden und Umkreisen der Boote sowie Schüsse mit scharfer Munition. Das gefährliche Kreuzen von zivilen Seenotrettungsschiffen ist ebenfalls Teil ihres Repertoires. Des Weiteren sind Situationen bekannt, die verdeutlichen, wie hoch unprofessionell die sogenannte ‚libysche Küstenwache‘ bei der Bergung von in Seenot geratenen Menschen vorgeht, dies auch mit tödlichem Ende. All das zeigt deutlich ein höchst zweifelhaftes Vorgehen dieser durch europäische Gelder vermeintlich ausgebildeten sogenannten ‚Küstenwache‘. Eine der jüngeren Aufnahmen vom 30.06.2021 stammt von dem Flugzeug Seabird der NGO Seawatch e.V. und zeigt ein Vorgehen, das leider nicht als Einzelfall, sondern eher als Standard gewertet werden muss. In diesem Fall bestand lediglich die Möglichkeit, es umfangreich zu dokumentieren. Zudem steht Frontex unter Verdacht, eine enge Zusammenarbeit in Sachen illegaler Zurückweisung von Menschen auf der Flucht mit der sogenannten ‚libyschen Küstenwache‘ zu pflegen und das ohne rechtlich gesichertes Mandat. All diese gut dokumentierten Anschuldigungen sind der Bundesregierung bekannt. Eine Reaktion bleibt aus.
Vor einigen Jahren gab es noch staatliche Seenotrettungsoperationen im Einsatz auf dem Mittelmeer. Diese wurden in den vergangenen Jahren gänzlich eingestellt. Notwendig wurde die staatliche Seenotrettung, weil es durch die fehlenden legalen Fluchtwege in die EU immer wieder tödliche Unfälle gab. Im Oktober 2013 ereigneten sich gleich zwei schwere Schiffsunglücke, bei denen insgesamt etwa 570 Menschen ums Leben kamen und etwa 450 Menschen gerettet werden konnten. Diese Unglücke erzeugten damals viel mediale Aufmerksamkeit und die Situation für Menschen, die nach Europa über das Mittelmeer fliehen, wurde von der Europäischen Union in den Fokus genommen. Italien richtete nur wenige Tage nach dem zweiten Unglück die Überwachungsoperation Mare Nostrum ein, die für die Rettung von Menschen aus Seenot und zur Bekämpfung von ‚Schleuserstrukturen‘ zuständig war. Der Begriff ‚Schleuser‘ muss hierbei allerdings kritisch hinterfragt werden. Bis zum 31. Oktober 2014 rettete die Operation Mare Nostrum über 150.000 Menschen aus Seenot. Der deutsche Bundesinnenminister Thomas de Maizière/ CDU forderte Ende September 2014 neben anderen, Mare Nostrum durch eine Mission zu ersetzen, die vornehmlich der Rückführung von Menschen auf der Flucht diente. Die Mission wurde eingestellt, auch weil Italien mit der Aufnahme von Menschen auf der Flucht von den anderen europäischen Staaten alleine gelassen wurde. Europa entschied sich also gegen die Weiterführung dieser Operation und plante stattdessen eine Art ‚Seenotrettung light‘ mit dem Einsatz der Operation Frontex plus. Jedoch wurden nicht mehr Menschen gerettet.
Stattdessen investierten die europäischen Staaten mehr Geld in den Ausbau der Grenzen und in die Abwehr von Menschen auf der Flucht. Eine Lösung für sichere und legale Fluchtwege wurde bis heute nicht anvisiert.82 So versuchte Europa mit der Operation Triton unter Führung der EU-Grenzagentur Frontex ihre Grenzen lückenlos zu schließen. Zwischen 2015 und 2020 war die von der EU finanzierte EUNAVFOR MED Operation Sophia auf dem Mittelmeer tätig, deren Kernauftrag es war, Schleppernetzwerke aufzudecken. Sie wurde in der Zeit zur wichtigsten staatlichen Rettungsmission, die etwa 45.000 Menschen rettete. Die Operation wurde zwar mehrmals verlängert, sollte am Ende jedoch nur noch dort in den Einsatz geschickt werden, wo keine Menschen mehr die Route über das Mittelmeer nahmen. Im März 2020 wurde schließlich auch die Operation Sophia ausgesetzt, weil sich die europäischen Staaten nicht auf einen gemeinsamen Verteilungsmechanismus und auf eine gemeinsame Verantwortungsübernahme der Staaten einigen konnten, in denen Menschen auf der Flucht ankamen. Außerdem hatte in den Augen der Verantwortlichen die Operation Sophia zu wenig gegen Schlepperaktivitäten getan.
Die Fluchtbewegungen nahmen zwar in den letzten Jahren immer mehr ab, aber durch das Ende der Mission Mare Nostrum und das Nicht-Retten der Operation Triton entstand eine große Lücke bei der Seenotrettung auf dem Mittelmeer. Immer öfter mussten auch Handelsschiffe retten, die dazu zwar verpflichtet sind, aber selten dafür geeignet und deren Crews nicht explizit mit den Besonderheiten von Rettungen vieler Menschen auf unsicheren Schlauchbooten ausgebildet waren. Als Antwort auf die Lücke gründeten sich zivile Seenotrettungsorganisationen wie z.B. Sea Watch, Sea Eye, Jugend Rettet und Mission Lifeline und gingen auf dem Mittelmeer in den Einsatz, um dem Sterben etwas entgegen zusetzen.
„Quite clearly the european authorities want to break a chain of solidarity“- Maurice Stierl vom Alarmphone Frei übersetzt: „Ganz offensichtlich wollen die europäischen Behörden eine Kette der Solidarität brechen.“
Seit einigen Jahren sind NGOs im Mittelmeerraum einer zunehmenden Kriminalisierung ausgesetzt. Das Vorgehen verschiedener Behörden gegen sie reicht von Verwanzen, Abhören und Hausdurchsuchungen, bis zu irrationalen und absurden Vorwürfen und immer neuen Auflagen, die erfüllt werden sollen. Dabei wird ein Ziel sehr deutlich: Die NGOs sollen möglichst lange und nachhaltig von ihrer Arbeit abgehalten und demoralisiert werden. Zur Zeit findet ein Schauprozess gegen eine Reederei, Ärzte ohne Grenzen und Save the Children sowie 21 Personen aus dem Kontext der zivilen Seenotrettung in Italien statt. Der Hauptvorwurf: Vermeintliche Beihilfe zur unerlaubten Einwanderung. Es werden zudem auch andere Register gezogen. So sieht sich die Crew der Aquarius mit dem Vorwurf der angeblichen illegalen Müllentsorgung konfrontiert. Es sind oftmals aber noch absurdere Argumente, mit denen Rettungsschiffe in Häfen festgehalten werden: Zu viele Rettungswesten an Bord zu haben oder kein Kreuzfahrtschiff zu sein, sind nur die Spitze des Eisberges. Auch Fischer*innen und Handelsschiffe sind von Repressionen betroffen oder werden nach der Rettung ebenfalls tagelang am Einlaufen in einen sicheren Hafen gehindert. Die Folge: Handelsschiffe ignorieren Rettungsgesuche per Funk oder nehmen von vorne herein Umwege in Kauf, um Fluchtrouten zu umfahren, da diese Repressionen nicht Waffengewalt an den Außenborder des Bootes gezwungen. Während vieler solcher Verfahren gibt es weder ausreichende Informationsweitergaben an die Angeklagten noch eine adäquate Übersetzung der Verhandlungen. Eine Spitze dieser Kriminalisierung wurde im Fall von Mohamad H. bekannt, der in Griechenland am 13. Mai 2021 zu 146 Jahren Haft verurteilt wurde. Selbst auf der Flucht, versuchte er das kenternde Boot mit den 33 Mitreisenden an Bord sicher an Land zu steuern. Die türkische Küstenwache wurde um Hilfe gebeten, die sie jedoch unterließ. Bei dem Versuch der sicheren Anlandung starben zwei Frauen. Das Verfahren von Mohamad H. wurde auf Basis der Interviews direkt nach der Ankunft geführt. Das Gericht ließ lediglich zwei von acht Zeugenaussagen von Menschen an Bord zu. Diese bestätigten, dass Mohamad H. zu helfen versuchte, als er das Boot steuerte. Wie borderline europe in ihrem Gutachten dokumentierte, ist dieses rechtlich mehr als fragwürdige Vorgehen eher Standard als Ausnahme. Und lässt sich offensichtlich in die rassistische Abschreckungs- und Demoralisierungspolitik der Festung Europa einordnen. Die zunehmende Kriminalisierung überrascht nach dem ‚Sommer der Migration 2015‘, der nach wie vor als vermeintliche ‚Flüchtlingskrise‘ bezeichnet und inszeniert wird, nur wenig. Begriffe wie ‚Menschenhandel‘, ‚Menschenschmuggel‘ und ‚illegale Einwanderung‘ werden in den öffentlichen Debatten immer wieder vermischt, obwohl es sich, rein rechtlich, um völlig unterschiedliche Dinge handelt. Dennoch scheinen sich diese Begriffe, auch in ihrer Vermischung, gut zu eignen, um die tödliche Abschottungspolitik und die Kriminalisierung von Menschen auf der Flucht zu rechtfertigen und als vermeintlich normal sowie legitim erscheinen zu lassen. Mit dem Ausbau der sogenannten ‚Anti-Schleuserei-Gesetzgebung‘ in europäischen Ländern und auch auf der EU- und UN-Ebene wurde eine Entwicklung der Unverhältnismäßigkeit erreicht. Es trifft in erster Linie diejenigen, die als Drittstaatenangehörige aufgrund von fehlenden Ressourcen und vor allem der Abschottung der EU keine Möglichkeit für einen fairen Migrationsprozess haben. Es ist also wichtig, nicht den Fehler zu begehen, Hilfsstrukturen per se als kriminell darzustellen. Alle Strukturen sind wichtig, da diese letztlich aufgrund des europäischen Grenzregimes notwendig wurden und es tatsächlich keine andere Möglichkeit für Grenzübertritte gibt.
! Allein das griechische Justizministerium gibt an, dass bereits bis 2019 insgesamt 1.905 Personen in griechischen Gefängnisse inhaftiert waren, die unter dem Vorwand ‚Beihilfe zur unerlaubten Einreise‘ verurteilt wurden.
Dieser Beitrag wurde uns von den Autor*innen des Buches Grenzregime 3 – Der lange Sommer der Migration zur Verfügung gestellt. Er stellt eine stark gekürzte und im Stil angepasste Version des Vorwortes dar. Was wir im langen Sommer der Migration 2015 miterleben konnten, war und ist keine Flüchtlingskrise, sondern eine historische und strukturelle Niederlage des europäischen Grenzregimes. 30 Jahre lang haben die europäischen Staaten im Verbund mit der EU versucht, ein höchst selektives, mehrstufiges und weit über die EU hinausreichendes Grenzregime auf- und auszubauen. Im Sommer 2015 haben hunderttausende Menschen das Mittelmeer überquert und Zäune und Stacheldraht an Europas Grenzen überwunden. Die Migrationsbewegungen haben Fragen des Grenzübertritts und des Rechts auf Flucht und Migration mit bisher nicht gekannter Vehemenz und nicht gekanntem Begehren auf die Straßen getragen und dadurch für die europäischen Gesellschaften offen sichtbar gemacht. Wie nie zuvor wurde grenzüberwindende Mobilität zu einer kollektiven und damit politisierten Bewegung der Migration gegen das europäische Grenzregime. Mit der offiziellen Grenzöffnung durch Deutschland und Österreich am 5. September 2015 gaben beide Länder diesem Druck nach. Teile der Festungsmauern wurden kurzzeitig niedergerungen. Mit massiven gesetzlichen Verschärfungen und dem Aufbau neuer Zäune und anderer Infrastrukturen will die EU seitdem die Kontrolle über die Grenzen und die Migrationsbewegung zurückgewinnen. Hotspots wurden eingerichtet, das Recht auf Asyl weiter ausgehöhlt und die Abschiebungsmaschinerie wieder in Gang gesetzt. Nicht zuletzt wurde die Türkei umworben, endlich als Grenzwächterin Europas zu fungieren, zu der die EU sie bereits seit gut zehn Jahren aufzubauen versuchte. Der Grundsatz des Grenzregimes, die den Schutz der europäischen Grenzen über das Recht auf Leben der Menschen auf der Flucht gestellt hatte, wurde durch die italienische Operation Mare Nostrum durchbrochen, mit deren Hilfe innerhalb eines Jahres ca. 170.000 Menschen nach Italien gelangten. Angesichts dieser Zahlen hatte u. a. Italien immer wieder ein faires europäisches Verteilungssystem gefordert und die Dublin-Verordnung kritisiert. Während der Ruf der südeuropäischen Länder von Kerneuropa systematisch ignoriert wurde, fingen diese Länder selbst an, die rechtliche Gültigkeit der Dublinverordnung zunehmend auszuhebeln. Dabei gingen sie so weit, Menschen auf der Flucht Busse bereitzustellen, die sie weiter in den Norden transportierten. De facto hatte das Dublin-System bereits vor Jahren aufgehört zu funktionieren. Der tausendfache Auf- und Ausbruch aus den Lagern in der Türkei oder Jordanien, ebenso wie die Mobilisierung tausender Menschen auf der Flucht, die sich Anfang September 2015 zu Fuß auf den Weg in Richtung österreichische Grenze machten, lässt sich als eine direkte Fortsetzung der revolutionären Umbrüche des ‚Arabischen Frühlings‘ (und seines Scheiterns) beschreiben. Mit ihnen ist der ‚Arabische Frühling‘ im wahrsten Sinne des Wortes als politische und soziale Bewegung im Herzen Europas angekommen. Nach wochenlangem Festsitzen auf dem Budapester Ostbahnhof Keleti, nahezu ohne Versorgung, mobilisierten sich tausende Menschen Anfang September 2015, um zu Fuß Richtung österreichische Grenze zu gelangen. Dies war ein kollektiver politischer Akt, dem tagelange logistische Planung und soziale Organisierung vorausgingen. Im sogenannten ‚March of Hope‘ ließen sich die politischen Praktiken und Erfahrungen der Akteur*innen vieler Kämpfe der Migration wiedererkennen. Auch zeigt er auf, dass Menschen auf der Flucht nicht nur Opfer eines rassistischen und gewaltvollen Migrationsregimes sind, sondern es immer wieder Momente des Widerstands und der Selbstermächtigung gibt. Dieser Moment des Politischen Sommers wird nicht vergehen. Er ist als Nachricht um die Welt gegangen, er ist weitergegeben worden in den Bewegungen der Migration und nicht zuletzt ist er mit ihnen tief in die europäischen Gesellschaften eingedrungen. Um diesen politischen Moment, um seine Sprengkraft im Herz des europäischen Grenzregimes muss es aus aktivistischer und solidarischer Perspektive weiterhin gehen.
Die Abschottung der südosteuropäischen Fluchtrouten, häufig ‚Balkanrouten‘ genannt, besteht aus unterschiedlichen strukturellen Elementen. Wir wollen vor allem auf die aktuelle Situation eingehen. Zur Geschichte der sogenannten ‚Balkanrouten‘ hat die Balkanbrücke einen ausführlichen Text veröffentlicht. Aufgrund der entwürdigenden und untragbaren Lebensbedingungen in den Ländern entlang des Landweges stellt nur ein Bruchteil der Menschen auf der Flucht über die sogenannte ‚Balkanroute‘ in Bosnien-Herzegowina oder Serbien einen Asylantrag. Die meisten versuchen die Weiterflucht nach Norden. Eines der bekannteren Lager geriet im Herbst 2019 in die Schlagzeilen: das auf einer Mülldeponie errichtete Lager Vucjak in Bosnien. Die Zustände in den von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) errichteten Camps sind wenig besser und bieten den Menschen weder langfristigen Schutz noch eine würdevolle Unterbringung. In Serbien an den Grenzen zu Kroatien und Ungarn ist die Situation kaum besser. Ein Minimum an Selbstbestimmung ist in den meisten Lagern nicht gewährleistet. So entscheiden sich viele Menschen für eine selbst organisierte Unterbringung außerhalb von Lagerstrukturen in Wäldern oder Ruinen. Tausende sind vor den Toren der EU Elend und Obdachlosigkeit ausgesetzt, Unterstützung erhalten sie kaum. Unterlassene Hilfeleistung bei akutem medizinischem Bedarf gehört zur gängigen Praxis. Zudem werden diese Menschen an den Grenzen beim Versuch der Ein- oder Weiterreise immer wieder brutal ab- und zurückgewiesen. Sie berichten vielfach von heftiger und systematischer Polizeigewalt durch Lokal- sowie Grenzpolizei. Die Systematik bezieht sich nicht nur auf Gewalt, sondern auch auf Demütigungen, Zerstörung von Handys und Eigentum, Abnahme von Kleidung und Schuhen. Dieses Vorgehen verdeutlicht das Motiv der maximalen Abschreckung und Demoralisierung von Menschen auf der Flucht. Interne Dokumente der Grenzschutzagentur Frontex legen nahe, dass die EU-Behörden von diesem Vorgehen mehr als genau wissen, es nicht nur dulden und decken, sondern auch direkt beteiligt sein könnten. Dokumentiert sind zudem sogenannte ,Ketten-Push-Backs‘, bei denen Menschen von Land zu Land weiter abgeschoben werden – häufig von Österreich über Slowenien nach Serbien oder Bosnien-Herzegowina. Menschen auf der Flucht und Menschen, die sich mit ihnen solidarisch zeigen, erfahren auch durch die Zivilgesellschaft Gewalt. Eine Recherche von Vice hat aufgezeigt, wie sich Personen in Bosnien in Facebook-Gruppen zu Hetzjagden und Attacken auf geflüchtete Menschen verabreden. Hilfe von der Polizei ist nicht zu erwarten, denn sie ist häufig selbst Ausgangspunkt für Gewalt. Nachdem Ungarn 2015 die Errichtung des 175 Kilometer langen Grenzzauns aus Natodraht zu Serbien umsetzte, wird Serbien mit einer Grenzschutzanlage zu Nordmazedonien nachziehen. Griechenland plant die Erweiterung der Zaunanlagen an der Landesgrenze zur Türkei. Stück für Stück werden alle Lücken geschlossen. Stacheldraht, Überwachungstechnik und kahl gerodete Grenzstreifen säumen das Bild der südosteuropäischen Grenzen. Das zeigt deutlich die Auslagerung der Migrationsabwehr auch an EU-Drittstaaten, denn die Beauftragung und Finanzierung der zunehmend technisierten Grenzschutzanlagen geschieht durch die EU. Für die asylpolitische Verantwortung und die Abschottung werden zunehmend Serbien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro und Albanien eingebunden – obwohl dort etwa mit Blick auf das Asylsystem die Einhaltung völkerrechtlicher und europarechtlicher Richtlinien nicht gegeben sind. Dennoch sieht der neue Vorschlag für einen EU-Migrationspakt die Einbindung Serbiens in das Dublin-System, Zugang zur EURODAC-Datenbank und eine vermehrte Einbindung der Westbalkanländer in das Abschieberegime vor. Frontex-Einsätze in EU-Drittstaaten gibt es bereits in Albanien und Montenegro. Diese Praktik der Abschottung ist vielfach dokumentiert und wird u.a. von Human Rights Watch, Border Violence Monitoring, Collektiv Aid und anderen NGOs angeprangert. Auch die Reportage Zurückgeführt von Paul Gäbler und David Kühn vermittelt einen Eindruck.
! Um den Balkanbegriff gibt es eine kritische Debatte mit der Frage, inwieweit die Bezeichnung negative Bilder und Vorstellungen bündelt und reproduziert. Da der Begriff im Text durch bestehende Bezeichnungen (etwa Balkanbrücke und ‚Balkanroute‘) genutzt wird, haben wir ihn nicht ersetzt. Wir laden Dich jedoch zur kritischen Auseinandersetzung ein und empfehlen dazu u.a. die Studie Imagining the Balkans von Maria Todorova.
Bei der Aufnahme von geflüchteten Menschen spielen Städte und Kommunen eine zentrale Rolle, denn sie sind im Endeffekt die Orte, an denen die Menschen ankommen können. Die kommunale Aufnahmebereitschaft ist daher maßgebend. In Deutschland haben sich aktuell 267 Städte (Stand 13.08.2021) zu Sicheren Häfen erklärt – ein Zeichen der Bereitschaft, initiiert und vorangetrieben durch die Seebrücke, als zentrale Kampagne der Bewegung. Die Sicheren Häfen setzen sich für sichere Fluchtwege ein, unterstützen die Seenotrettung und sind bereit, mehr geflüchtete Menschen aufzunehmen, als ihnen beispielsweise durch den bundesweiten Verteilungsschlüssel (Königssteiner Schlüssel) zugeteilt werden. Auf Deutschlandebene können sich die Städte durch das Bündnis Städte Sichere Häfen vernetzen, das aktuell 100 Mitglieder hat. Diese Aufnahmebereitschaft wird jedoch in der Praxis durch das CDU/CSU-geführte Bundesinnenministerium (BMI) blockiert, denn gemäß § 23 Abs. 1 des Aufenthalts Gesetzes muss das BMI sein Einverständnis zu Landesaufnahmeprogrammen geben. So hat das BMI z.B. schon konkrete Aufnahmeforderungen aus Berlin und Thüringen abgelehnt. Während Berlin dagegen bereits Klage eingelegt hat, läuft in Thüringen momentan eine Petition für eine Klage. Auf der Konferenz From the Sea to the City – eine Konferenz der Städte für ein offenes Europa in Palermo im Juni 2021 – wurde nun die Internationale Allianz der Städte Sicherer Häfen gegründet, welche momentan aus 33 europäischen Städten besteht und fünf Forderungen an die nationalen Regierungen europäischer Staaten stellt: Wahrung des Rechts auf Asyl, Aufnahmekontingente für die freiwillige Aufnahme in den Kommunen, eine direkte Finanzierung der Aufnahme in den Städten durch die EU an die Kommunen, legale Einwanderungswege für eine pragmatische Einwanderungspolitik, gerechte Lastenverteilung zwischen den Staaten der EU. Wenn Städte Bereitschaft zur Aufnahme zeigen, und das tun viele, muss es für sie möglich werden, diese Bereitschaft umzusetzen! Konkret muss dafür die Genehmigungspflicht durch das BMI rechtlich abgeschafft werden.
Ankommen unmöglich?!
Deutschland und die EU versuchen also mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, Menschen auf der Flucht ihr Recht auf Schutz zu verwehren. Und selbst wenn sie es schaffen, trotz allem in Deutschland einzureisen, macht die Bundesregierung es den Neuankommenden so schwer wie möglich, Fuß zu fassen. Denn im Fokus der großen Koalition (GroKo: Bündnis der beiden meist gewählten Parteien im Bundestag, in diesem Fall CDU/ CSU und SPD) steht nicht das Willkommenheißen von Neuankommenden. Vielmehr werden systematische Diskriminierung, Druck und Repression als Mittel herangezogen, um neuangekommende Menschen zum schnellstmöglichen Verlassen Deutschlands zu bewegen. Ihnen werden durch Gesetzgebung und Verwaltung Steine in den Weg gelegt, die ihnen das Ankommen in Deutschland und die Teilhabe in der Gesellschaft von Beginn an so schwer wie möglich machen. Es werden wesentlich weniger Schutzsuchende in Deutschland aufgenommen als politisch vereinbart wurde. Die GroKo hatte sich eigentlich auf einen sogenannten ‚Korridor für die Zuwanderung‘ geeinigt, der vorsieht, dass jedes Jahr zwischen 180.000 und 220.000 Neuankommende in Deutschland aufgenommen werden sollen. Nach Schätzungen von Pro Asyl kamen 2020 jedoch dreimal weniger Menschen nach Deutschland, als diese Vereinbarung vorsieht.
Das Asylverfahren wird durch das Asylgesetz (AsylG) geregelt. Die ausführende Behörde ist das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Grundsätzlich gilt: Alle Asylsuchenden haben das Recht auf ein faires und sorgfältiges Asylverfahren, in dem die individuelle Situation genau geprüft wird. Doch die Koalition aus CDU/CSU und SPD hat das Asylrecht in den letzten Jahren kontinuierlich und im rasanten Tempo immer weiter verschärft. Asylanträge werden zunehmend im Schnellverfahren bearbeitet, Möglichkeiten für Leistungskürzungen erweitert, Möglichkeiten zum Familiennachzug wiederum eingeschränkt und mehr Neuangekommende müssen immer länger in überfüllten und großen Massenunterkünften leben. Das Ziel dieser systematischen und schrittweisen Einschränkung der Rechte von geflüchteten Menschen in Deutschland ist Abschreckung. Mit ihren schnellen und hastigen Asylrechtsverschärfungen folgt die Politik damit dem nach rechts verschobenen und durch rechte Stimmen dominierten Diskurs um Flucht und Migration. Ein Asylverfahren kann sich in manchen Fällen über Jahre hinweg ziehen. Es sind Jahre, in denen die Wartenden in ständiger Unsicherheit leben müssen. Das Verfahren kann auf verschiedene Weise und mit unterschiedlichen Aufenthaltstiteln ausgehen: beispielsweise als Asylanerkennung gemäß § 16a GG, als Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft, als subsidiärer Schutz oder als Abschiebeverbot. Weitere Aufenthaltsmöglichkeiten können sich auch im Anschluss an ein negativ ausgegangenes Asylverfahren ergeben. Obwohl die Zuwanderungszahlen in den letzten Jahren stark gesunkenen sind, bearbeitet das BAMF Asylanträge weiterhin sehr restriktiv: Nur 35% der Schutzsuchenden erhielten im Jahr 2020 Asyl oder eine Flüchtlingsanerkennung (bereinigte Schutzquote). Ein großer Teil davon sind Kinder, die bereits in Deutschland geboren wurden, oder Familienangehörige, die nachgekommen sind. 17% der Schutzsuchenden erhielten subsidiären Schutz, die restlichen 5% ein sogenanntes ‚nationales Abschiebungsverbot‘. 43% der Asylanträge, also fast die Hälfte, wurden abgelehnt. In diesem Fall haben die Asylsuchenden die Möglichkeit, gegen die Ablehnung zu klagen. Tatsächlich kommt es bei den Asylentscheiden regelmäßig zu gravierenden Fehlern, besonders bei Personen aus Afghanistan. In den ersten fünf Monaten des Jahres 2020 wurden z.B. knapp ein Drittel aller Entscheidungen, die überprüft wurden, gerichtlich auch korrigiert. Doch Betroffene müssen häufig viele Monate bis zu mehr als zwei Jahre auf den Ausgang ihrer Klage warten. In dieser Zeit können sie Angebote wie Sprachkurse oder Arbeitsmöglichkeiten wesentlich schwerer, wenn überhaupt, wahrnehmen.
Besonders schwierig ist die Situation für geflüchtete Menschen aus vermeintlichen und sogenannten ‚sicheren Herkunftsstaaten‘. Dabei wird pauschal unterstellt, dass „[...] aufgrund des demokratischen Systems und der allgemeinen politischen Lage davon ausgegangen werden kann, dass dort generell keine staatliche Verfolgung zu befürchten ist und dass der jeweilige Staat grundsätzlich vor nichtstaatlicher Verfolgung schützen kann.“ Mit der Annahme, dass ohnehin kein Asylgrund vorliegt, werden die Asylanträge der Menschen aus diesen Staaten in einem Schnellverfahren bearbeitet. Eine faire Prüfung der individuellen Situation der Menschen ist auf diese Weise nicht möglich. Trotzdem werden immer mehr Staaten als vermeintlich ‚sicher‘ eingestuft.
Die Unsicherheit von neuangekommenden Menschen in Bezug auf die Möglichkeit, ihre Familie nachzuholen, ist besonders gravierend. Anerkannten Geflüchteten ist es erlaubt, ihre engsten Familienangehörigen nach Deutschland nachzuholen, allerdings unter massiv erschwerten Bedingungen. Ein Problem ist z.B., dass viele Familien kaum oder schlechten Zugang zu einer Botschaft haben, um Visa zu beantragen. Menschen aus Afghanistan beispielsweise können nur in Neu-Delhi oder Islamabad einen Antrag auf ein Visum einreichen, wobei die Wartefristen im Frühjahr 2021 noch über ein Jahr betrugen – die Bearbeitungszeit nicht mitberechnet. Dadurch werden die Prozesse zum Familiennachzug langwierig und Familien bleiben oftmals Jahre getrennt. Grundsätzlich gilt außerdem die Regelung, dass geflüchtete Kinder lediglich ihre Eltern nach Deutschland nachholen dürfen. Ihre Geschwister dürfen hingegen nicht kommen. Besonders schwierig ist die Situation für Angehörige von Neuangekommenden, die in Deutschland subsidiären Schutz erhalten. Hier wurde eine Quotenregelung vereinbart, die 1.000 Familienangehörigen pro Monat garantieren soll, nachkommen zu können. Doch dieses Kontingent wird aufgrund vielzähliger bürokratischer Hürden (siehe z.B. oben) nicht einmal im Ansatz erreicht. Im Januar 2021 kamen beispielsweise gerade einmal 264 Angehörige nach Deutschland.
Sehr viele Menschen erhalten keinen Schutz z.B. durch Asyl, sondern nur eine Duldung in Deutschland. Gegenwärtig leben über 200.000 geduldete Menschen in Deutschland. Eine Duldung bedeutet letztlich nur, dass eine Abschiebung ausgesetzt wird – z.B. wegen der Sicherheitslage im Herkunftsland, aus schwerwiegenden gesundheitlichen Gründen oder in manchen Fällen, wenn eine Familie durch die Abschiebung getrennt werden müsste. Auch Ausbildungen oder andere Beschäftigungen können zu einer Duldung führen. Doch eine Duldung gilt meist nur für eine kurze, festgelegte Zeit und ist an oben genannte Bedingungen geknüpft. Dadurch leben Menschen in ständiger Unsicherheit über ihre Zukunft und in Angst vor einer drohenden Abschiebung. Zudem werden ihnen drastische Kürzungen von Sozialleistungen, die jegliche Teilhabe am sozialen Leben unmöglich machen, oder Einschränkungen in ihrer Bewegungsfreiheit angedroht, sollten sie sich z.B. bei der Vorbereitung ihrer eigenen Abschiebung nicht kooperativ verhalten. Die große Koalition hat zudem zum 01. Januar 2020 eine Duldung für Personen mit offiziell vermeintlich ‚ungeklärter Identität‘ eingeführt, die sogenannte ‚Duldung light‘. Letztlich zielt dieser Status darauf ab, die Sanktionen wie Leistungskürzungen oder Arbeitsverbote für Menschen mit Duldung weiter zu verschärfen und führt dazu, dass die betroffenen Menschen noch stärker aus der Gesellschaft und dem sozialen Leben ausgegrenzt werden. Auch ist der Weg zu einem Bleiberecht und regulärem Aufenthalt für geduldete Menschen (insbesondere Menschen mit einer ‚Duldung light‘) wegen rechtlichen Hürden oder aufgrund ungenügender Informationsweitergabe zu bürokratischen Vorgängen sehr schwer.
Jährlich werden tausende Menschen abgeschoben. Die Zahl der Abschiebungen hat sich, u.a. durch die pandemische Lage, im Jahr 2020 im Vergleich zum Vorjahr zwar etwa halbiert, aber das hat nichts mit einer gestiegenen Menschlichkeit zu tun. Davon zeugen die zahlreichen Abschiebungen von Familien, Menschen mit schweren Gesundheitsproblemen und von Menschen, die in Deutschland geboren wurden. Viele Personen, die abgeschoben werden, leben bereits seit vielen Jahren in Deutschland, haben hier Freunde, Arbeit und ihren Alltag. Besonders schonungslos ist die Praxis der Inhaftierung in Abschiebehaftanstalten. Dabei handelt es sich de facto um Gefängnisse, in denen Menschen vor einer Abschiebung eingesperrt werden. In einigen Bundesländern ist es erlaubt, auch Minderjährige dort zu inhaftieren. Teilweise werden außerdem ganze Familien auseinandergerissen, weil ein Elternteil in Abschiebehaft kommt.
Die Lebenssituation von Menschen auf der Flucht unterscheidet sich in Deutschland je nach Bundesland. Doch es zeichnet sich ein klarer Trend ab: Es müssen immer mehr Menschen für immer längere Zeit in Massenunterkünften leben. Darunter sind auch viele Kinder. Die GroKo hat die Wohnsituation für Geflüchtete noch einmal per Gesetz verschärft: War die Dauer des Aufenthalts in großen Erstaufnahmeeinrichtungen zuvor auf maximal ein halbes Jahr beschränkt, wurde die Wohndauer nun auf die Zeit des gesamten Asylverfahrens verlängert (und sollte der Antrag abgelehnt werden, bis zur Abschiebung). Im schlimmsten Fall müssen die Menschen eineinhalb Jahre in solchen Erstaufnahmeunterkünften verbringen Privatsphäre und Rückzugsräume sind in Massenunterkünften nicht vorhanden. Zudem leben die Menschen dort in großer Zahl auf engem Raum und/ oder können Zimmer nicht abschließen. Dazu kommt, dass einige dieser Unterkünfte abgelegen sind und dadurch eine gesellschaftliche Teilhabe deutlich schwerer wird.
Dass die Situation in den Massenunterkünften untragbar ist, ist besonders während der Corona-Pandemie mehr als deutlich geworden. Durch die Unterbringung auf engstem Raum haben sich viele Menschen angesteckt und mussten über Wochen in Quarantäne. Die Gefahr für die weiteren Bewohner*innen ist aufgrund fehlender Zugänge zum Infektionsschutz und medizinischer Versorgung groß. Abstandsregelungen einzuhalten und soziale Kontakte zu meiden, ist in einer solchen Massenunterkunft quasi unmöglich. Mehrere Verwaltungsgerichte haben offiziell festgestellt, dass der Infektionsschutz in solchen Massenunterkünften nicht gewährleistet werden kann. Das liegt eigentlich auf der Hand. Dennoch bleibt eine Reaktion der Bundesregierung noch immer aus. In der Erstaufnahmeeinrichtung in Ellwangen infizierte sich z.B. bereits in kurzer Zeit mehr als die Hälfte der Bewohner*innen. Die Pandemie macht deutlich, wie wichtig es ist, den Trend zu immer größeren Unterkünften sofort umzukehren und stattdessen dezentrale Wohnmöglichkeiten für Asylsuchende sicherzustellen.
Auch unabhängig von der Unterbringung in Massenunterkünften ist der Zugang zu Gesundheitsversorgung und Sozialleistungen für neuangekommende Menschen in Deutschland sehr schlecht. Für diese sowie für sogenannte ‚vollziehbar Ausreisepflichtige‘ (Abschiebungen) gelten nicht die üblichen Regelungen für Sozialleistungen. Stattdessen werden die Leistungen, die sie erhalten können, gesondert im Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) festgesetzt. Das Gesetz legt die Grundsicherung während und teilweise nach dem Asylverfahren fest Was das für die Menschen konkret bedeutet, liegt im Ermessen des ausführenden Bundeslandes oder der Kommune. Im Wesentlichen sind die Grundleistungen noch niedriger als für Menschen, die Hartz IV beziehen. Erst bei einer Anerkennung werden die Leistungen generell an das Hartz IV-Niveau angepasst. Je nach Umsetzung des Gesetzes ist die medizinische Versorgung sehr eingeschränkt und die Betroffenen erhalten lediglich medizinische Notversorgungen. Diese Bestimmungen sollen abschreckend wirken, dabei hat das Bundesverfassungsgericht bereits am 18. Juli 2012 geurteilt, dass „[m]igrationspolitische Erwägungen, die Leistungen an Asylbewerber und Flüchtlinge niedrig zu halten, um Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, [...] von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen [können]“. Hinzu kommt, dass den Menschen Leistungen gekürzt werden können. Die Möglichkeiten dafür wurden in den letzten Jahren immer stärker ausgeweitet. Durch die Androhung solcher Kürzungen üben deutsche Behörden systematisch Druck auf neuangekommende Menschen aus. Dabei stellte das Bundesverfassungsgericht 2012 klar, dass ausländische Staatsangehörige ebenfalls Anspruch auf ein Existenzminimum haben und dass die Leistungen ihnen auch die Teilhabe in der Gesellschaft ermöglichen können muss. Kurz gesagt: Das Urteil ermahnt die Bundesregierung, dass die Menschenwürde für alle Menschen gleichermaßen gilt. Trotzdem kommt es auch bei den Anpassungen der Leistungssätze regelmäßig zu Verzögerungen.
Asylsuchende fliehen oftmals vor Gewalt, Krieg oder Verfolgung. In vielen Fällen ist die Flucht selbst und die Gegebenheiten durch die voranschreitende Migrationsabwehr eine traumatisierende Erfahrung. Doch die belastende Situation, die fehlende Privatsphäre und die Unsicherheit in den Massenunterkünften machen es für die betroffenen Menschen sehr schwer, das Erlebte und ihre Traumata zu verarbeiten. Stattdessen werden sie dazu gezwungen, im Rahmen der Anhörungen detailliert und lückenlos ihre Geschichte und mögliche Gewalterfahrungen zu erzählen, um ihren individuellen Asylgrund glaubhaft zu machen. Für viele Betroffene ist das ohne professionelle psychologische Unterstützung nicht möglich. Deswegen besagen die Regelungen, dass Menschen mit posttraumatischer Belastungsstörungen (PTBS) im Verfahren besonders unterstützt werden müssen. Ein Konzept für die Umsetzung fehlt auf Bundesebene allerdings bislang. Zudem ist kaum eine therapeutische Einrichtung auf fluchtbedingte PTBS und Mehrsprachigkeit spezialisiert. Für Menschen mit PTBS ist das Gefühl von Sicherheit essenziell. Doch das repressive Asylsystem in Deutschland, das auf Abschreckung, Ausgrenzung und Isolation durch Massenunterkünfte setzt, macht es sehr schwer, ein solches Gefühl von Sicherheit zu erleben.
Arbeiten zu können, ist extrem wichtig, um in Deutschland wahrhaftig ankommen und ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Obwohl in Deutschland händeringend Fachkräfte gesucht und teilweise im Ausland angeworben werden, ist es vielen geflüchteten Personen in Deutschland verboten, zu arbeiten: Menschen, die in einer Erstaufnahmeeinrichtung leben, dürfen meist in den ersten 9 Monaten nicht arbeiten. Für Personen aus vermeintlich ‚sicheren Herkunftsstaaten‘ gilt dieses Arbeitsverbot sogar mindestens für die gesamte Zeit in der Unterkunft.133 Außerdem wird der Zugang für Geflüchtete zum Arbeitsmarkt durch rechtliche und bürokratische Hindernisse erschwert. In vielen Fällen werden z.B. Qualifikationen aus dem Heimatland nicht anerkannt. In den letzten Jahren scheinen einige Verbesserungen auf den Weg gebracht worden zu sein: z.B. weitere Deutschkursangebote, um einen besseren Zugang zum Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Weil aber gleichzeitig immer stärkere Verschärfungen des Asylrechts beschlossen wurden, laufen diese Anpassungen oftmals ins Leere - sie hebeln sich gegenseitig aus. Nicht zuletzt leben wir in einer Gesellschaft, die institutionellen und strukturellen Rassismus hervorbringt und stützt. Dieser ist in ein kapitalistisches System eingebettet, das den Wert von Menschen aufgrund ihrer Produktivität misst. Rassismus am Arbeitsplatz oder im Bewerbungsprozess ist für rassifizierte Personen ein zentrales Arbeitsmarkthindernis. So auch für Neuangekommene.
Unser kapitalistisches Wirtschaftssystem beruht auf der Mobilität von Arbeitskräften. Seit der Industrialisierung und erhöhten Land-Stadt-Bewegungen ist es eng mit Migrationsdynamiken verbunden. Auf der einen Seite werden größtmögliche Mobilität und Bewegungsfreiheit für manche Menschen durchgesetzt. Auf der anderen Seite wird die Mobilität anderer Menschen als Sicherheitsrisiko inszeniert und kriminalisiert. Dadurch wird es möglich, dass Menschen in Lagern festgesetzt und gewaltvoll abgeschoben, im Mittelmeer zurückgelassen und in libyschen Folterlagern im Stich gelassen werden. Auch hier zeigt sich die rassistische Kontinuität der Kolonialgeschichte. Zugleich wird noch immer behauptet, Migration sei ein Ausnahmephänomen. Dabei ist es menschheitsgeschichtlich völlig selbstverständlich. So sind und waren die europäischen Gesellschaften immer auch Migrationsgesellschaften. In den politischen und medialen Debatten wird wiederholt über den wirtschaftlichen Nutzen von neuankommenden Menschen berichtet. Dieser wird unter dem Fokus des Fachkräftemangels und der Arbeitsmarktintegration verhandelt. Das zeigt deutlich, dass ein Mensch aus dem globalen Süden nur dann akzeptiert wird, wenn sein*ihr, durch Bürokratie zugestandener, Status es zulässt. Dies gilt für anerkannte Ausbildungen aus dem Ausland genauso wie für anerkannte Schutzstatus. Hier zeigt sich ein deutlich kapitalistisches Verwertungsinteresse, wobei der Wert eines Menschen als buchstäbliches ‚Humankapital‘ gemessen wird. Diese Logik steckt auch in einer Vielzahl von Statistiken, die diese Kosten-Nutzenrechnung von Migration aus dem globalen Süden zu messen versuchen. All dies stützt das rassistische Migrationssystem der EU, welches das Ziel der Anpassung zur Ausbeutung durch oftmals unwürdige Arbeitsverhältnisse oder den Ausschluss von Menschen verfolgt. Kurz gesagt: Als sogenannte ‚anerkannte Flüchtlinge' oder geduldete Menschen werden also nur diejenigen akzeptiert, die möglichst schnell arbeiten und einen ‚Nutzen‘ erbringen. Das EU-Migrationsregime ist somit gleichzeitig ein Verwertungsregime, das Zwang zur Arbeit ausübt und Aufenthaltsrecht immer stärker an die wirtschaftliche Verwertbarkeit eines Menschen knüpft. Dieses System erzeugt einen Zustand oberflächlicher Widersprüchlichkeit: Während im Frühjahr 2020 mehrere zehntausend Menschen in den griechischen Lagern eingesperrt und von Corona bedroht waren, wurden über Sonderregelungen ebenfalls zehntausende sogenannte ‚Saisonarbeitskräfte' aus hauptsächlich ost- und südosteuropäischen Ländern nach Deutschland geflogen. Sie wurden dann in extra verlängerten Zeiträumen sozialversicherungsfrei in der Agrar- und Fleischindustrie ausgebeutet. Dieser Zusammenhang von Arbeitsausbeutung und Migration ist natürlich nicht neu. Ein Blick auf die Migrationsgeschichte vom Nordwesten Europas und gerade der BRD ab den 1950er-Jahren macht das deutlich: Jahrzehnte lang erwirtschafteten Arbeiter*innen aus dem Ausland einen wesentlichen Teil des sogenannten ‚Wirtschaftswunders‘ bis zur Ölkrise 1973. Während ein Teil der deutschen Bevölkerung ab den 1960er Jahren eine Bildungsexpansion erlebte und viele Menschen, in einem sogenannten ‚Fahrstuhleffekt‘, einen gesellschaftlichen Aufstieg erlebten, bildete sich eine häufig als ‚Subproletariat‘ beschriebene Unterschichtung. Die als ‚Gastarbeiter*innen‘ bezeichneten Menschen arbeiteten und lebten unter unsicheren Bedingungen, wurden übel ausgebeutet und gleichzeitig massiv rassistisch stigmatisiert und ausgegrenzt. Integration existierte damals als Konzept noch nicht, denn gesellschaftliche Teilhabe der migrantischen Arbeiter*innen war nicht vorgesehen. Vielmehr versuchte man, die Arbeiter*innen und ihre Familien wieder loszuwerden, als sich die wirtschaftliche Situation verschlechterte: Sie wurden als ‚Konjunkturpuffer‘ benutzt und sollten durch gesetzliche Verschärfungen und sogenannte ‚Rückkehrprämien‘ zur Ausreise bewegt werden. Gleichzeitig erkämpften die migrantischen Arbeiter*innen und ihre Familien, zunächst durch vehemente Streiks, eine Demokratisierung der Betriebe – wohlgemerkt gegen den Widerstand der deutschen Kolleg*innen und der Gewerkschaften – und anschließend nach und nach ihr Recht auf eine geeinte Familie sowie Zugang zu Bildung, Gesundheitswesen und Wohnraum. Es gab rassistische Abwehrreaktionen und es wurde sich geweigert, eine Migrationsgesellschaft als Realität anzuerkennen. Diese Anerkennung erfolgte erst in den 2000er Jahren, zumindest offiziell. Diese Haltung mündete ab den späten 1980ern und vor allem Anfang der 1990er in faschistischen, rassistischen und antisemitischen Pogromen. Politisch nachgezogen wurde im Mai 1993 mit dem sogenannten ‚Asylkompromiss‘. Das war die faktische Abschaffung des Rechts auf Asyl in der deutschen Gesetzgebung. Trotz der Vermengung von Asyl-, Arbeits- und Migrationsdiskussionen gilt als Grundsatz: Das Recht auf Asyl ist nicht an Produktivität und das Erwirtschaften von Gewinn durch den bestmöglichen Verkauf der eigenen Arbeitskraft geknüpft. Das gutgemeinte Argumentieren mit der Wirtschaftlichkeit von Migration und Flucht knüpft dabei an die beschriebene kapitalistische Sichtweise an. Ziel sollte stattdessen zum einen die Normalisierung von Migrationsrealitäten und dem Recht auf Bewegungsfreiheit und Mobilität sein. Zum anderen sollte es darum gehen, Asyl als frei von wirtschaftlichen Bedingungen stehendes Grundrecht zu festigen.