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Das wichtigste zuerst: Wir, als Seebrücke Wien, haben uns aufgelöst. Hier sind unsere (nicht vollständigen) Überlegungen, wie es dazu kam.


Der Text ist in vier Teile gegliedert:

  1. Warum haben wir uns aufgelöst?

  2. Problem: Selbstwahrnehmung - Von und für wen war die Gruppe?

  3. Was war die Seebrücke Wien? + Konzept "Sicherer Hafen"

  4. Ausblick


Du bist auf der Suche nach Möglichkeiten aktiv zu werden? Hier ein paar alternative Anlaufstellen:

Sea Eye Wien: https://sea-eye.org/gruppe-wien/
Sea Watch: https://sea-watch.org/
SOS Balkanroute: https://www.facebook.com/SOSBalkanroute
Stop Deportation Vienna: https://www.facebook.com/stopdeportation
Dessi Wien (Deserteurs -und Flüchtlingsberatung): https://deserteursberatung.at/
FlüWi: https://www.fluechtlinge-willkommen.at/


Warum haben wir uns aufgelöst?

Über die Jahre unseres Aktiv-Seins haben sich unsere Ziele, Vorstellungen und Prioritäten geändert. Zum Zeitpunkt der Auflösung teilen wir als Gruppe keinen klaren (Arbeits-) Schwerpunkt und geteilte Strategie mehr. Das lag unter anderem daran, dass innerhalb der Gruppe unterschiedliche Interessen und Prioritäten existierten, die sich aus einem über die Zeit verändernden politischen Selbstverständnisses - als Gruppe und einzelner Personen - ergaben. Diese unterschiedlichen, teils sehr konträren Ansätze politischer Organisierung, waren Anstoß für lange Reflexions- und Umstrukturierungsprozesse, konnten aber letztlich kein kohärentes Gruppengefühl schaffen und ließen ein gemeinsames, klares Ziel, hinter dem alle stehen konnten, missen. Dem Anspruch diese Widerstände auszuhalten und ein Klima entstehen zu lassen, in dem diese unterschiedlichen Ansätze nebeneinander stehen können, konnten und wollten wir letztlich nicht mehr gerecht werden. 

Die Gruppe aufzulösen bedeutet die Unterschiedlichkeit der Positionen und die Menschen dahinter wertzuschätzen und den solidarischen Bezug zueinander nicht zu verlieren.

Problem: Selbstwahrnehmung - Von und für wen war die Gruppe?

Im Nachhinein hatten viele von uns das Gefühl, die Seebrücke Wien schon seit langer Zeit nur noch um der Gruppe selbst willen aufrechtzuerhalten. Der größte Teil unserer gemeinsamen Arbeit bestand in regelmäßigen Plena, der (Struktur-)arbeit einzelner Arbeitsgruppen, Social Media und Mailverkehr. Aus dem Wissen heraus wie sich Leistungsanspruch und Outcome-Fokussierung gerade auch in politischer Organisierung (s. Auflösungsschreiben Autonome Antifa Wien) einnisten können und aus der Angst immer überarbeitet und letztlich ausgebrannt zu sein, haben wir uns auf wenige Veranstaltungen im Jahr konzentriert. Das Gefühl dabei trotzdem den realpolitischen Ereignissen und Entscheidungen nur "hinterherzuhechten" und keinerlei soziale Verankerung vorweisen zu können, blieb.

Zusätzlich dazu haben wir versucht eine Bandbreite an Problemen zu thematisieren, die uns in dieser Größe überforderte. (Sammel-) Abschiebungen, Push-Backs durch Frontex und der Polizei, der steigende Rechtsruck und die verschärfte Asylpolitik, menschenverachtende Zustände in den (österreichischen & europäischen) Lagern, im Mittelmeer und auf der Balkanroute. Wir verspürten einen immensen Handlungsdruck, können der Brutalität von Festung Europa und der Mentalität, die sie nährt, auf diese Art allerdings nichts entgegensetzen.
Das führte dazu, dass es uns schwer fiel die Lage im Mittelmeer als unseren einzigen Arbeitsschwerpunkt zu definieren. 

Nach 5 Jahren Aktivismus haben wir es nicht geschafft uns als Gruppe eine solide Wissensbasis mit Bezug auf Österreich anzueignen, was sich darin äußerte, dass wir tatsächlich keine konkreten Aussagen über die Situation von PoM in Österreich geben konnten. Diese Vernachlässigung und die Tatsache, dass wir uns nicht genug mit dem Thema Antirassismus auseinandergesetzt haben, wirft für uns die Frage auf: Für wen war und ist die Seebrücke als solches gedacht/gemacht? Trotz einiger Versuche ist es also nicht gelungen, uns nachhaltig intern mit dem Thema Antirassismus und Klassismus auseinanderzusetzen. Personen, die nicht weiß gelesen werden, fühlen bzw. fühlten sich in unserer Gruppe und den Spaces, in denen wir uns bewegten oft nicht wohl. Wie wir diese Ausschlüsse innerhalb unserer Strukturen stetig neu hervorgebracht haben, wird uns auch weiterhin noch beschäftigen. 

Dennoch haben wir an der Seebrücke Wien festgehalten - vielleicht, weil viele von uns sich gerne als Teil der linken/ linksradikalen Szene in Wien gesehen haben, oder weil die Gruppe für viele zu einem sozialen und emotionalen Projekt geworden war. 

Es wäre hilfreich gewesen, früher produktiv in Konflikt zu gehen und zu streiten. Die Fähigkeit dazu ist schwer genug und eine Kultur, in der das möglich ist, braucht auf ganz persönlicher und auf einer Gruppenebene den Mut, dafür Raum zu schaffen. Letztlich haben wir die notwendigen Auseinandersetzungen nur vertagt, während Viele sich bereits anderen Sachen gewidmet haben. Es entstand ein Klima, in dem alle noch irgendwie dabei waren und irgendwie auch nicht, weil keins von uns konsequent verbindlich sein wollte.

Was war die Seebrücke Wien?

Die Seebrücke als Initiative hat sich im Juni 2018 gegründet, als das zivile Seenotrettungsschiff Mission Lifeline mit 234 Menschen, die sich auf der Flucht über das Mittelmeer befanden, am Einlaufen in einen Hafen gehindert wurde. Seebrücke sollte der verlängerte Arm der zivilen Seenotrettung am Festland ohne Meerzugang sein sowie auf die Missstände auf dem Mittelmeer, der unsichersten Fluchtroute der Welt, und auf die wachsenden Repressalien, denen zivilen Seenotrettungsschiffe von staatlicher Seite ausgesetzt waren, aufmerksam machen. Die einzige staatlich organisierte Seenotrettungsoperation "Mare Nostrum" wurde bereits 2014 eingestellt. 

Die Seebrücke Wien entstand im August 2018 mit einer großen Demonstration und war zu Beginn viel damit beschäftigt, diese Themen in die Öffentlichkeit und über Lobbyarbeit in den Gemeinderat zu tragen. Das stellte sich als sehr zäh und frustrierend heraus. Ein Großteil der Gruppe fokussierte sich lieber auf Aktionen, Demonstrationen, Veranstaltungen, Vernetzungen etc. Es entstanden viele verschiedene Projekte innerhalb der Seebrücke, die unterschiedliche Missstände für Menschen auf der Flucht in den Blick nahmen. 
So gab es Kundgebungen zu queeren Menschen auf der Flucht, zu den Auswirkungen der Frontex-Politik,  Veranstaltungen zur Verschränkung von Flucht und Klima, Filmscreenings über verschiedene zivile Seenotrettungsorganisationen, Gedenkkundgebung "SayTheirNames", Spenden-Sammel Aktionen, die Theaterveranstaltung "Mittelmeermonologe",  die Ausstellung zur Fortress Europe, Demonstrationen gegen Abschiebungen, parallele Bildungskampagnen auf Social Media, Infotische auf verschiedensten Konzerten und Veranstaltungen und noch viel mehr. Das wäre natürlich nicht ohne Vernetzungen und Kooperationen mit anderen Gruppen möglich gewesen. Manchmal haben wir eine Bühne für Seenotrettung bekommen, manchmal konnten wir diese für andere Perspektiven und Inhalte bieten. Für beides sind wir vielen Menschen und Begegnungen dankbar!

Konzept "Sicherer Hafen"

In den Anfängen der Seebrücke Wien wurde das Konzept des Sicheren Hafens als sehr hoffnungsvolle Strategie angesehen, Städten mehr Verantwortung in der Aufnahme und Teilhabe von Menschen auf der Flucht zu geben. Das Konzept der Seebrücke als Ganzes hat jedoch einigen Personen Unbehagen bereitet. Als Teil einer internationalen Bewegung mussten bzw. standen wir automatisch hinter Konzepten wie "Sicherer Hafen" und haben jahrelang realpolitische Lobbyarbeit gemacht, damit auch die Stadt Wien sich zum Sicheren Hafen erklärt. Auch die Hinwendung zur politischen Arbeit auf Bezirksebene brachte keine Verbesserungen. Für eine konstante außerparlamentarische Kontrolle und das Einfordern der Maßnahmen fehlten uns schlichtweg die Ressourcen. Schließlich haben wir uns in der Gruppe geeinigt, diese Form der politischen Arbeit fallen zu lassen. Diese Arbeit war kräftezehrend und mühsam und der Glaube daran als wirksame Veränderungsstrategie fehlte schon länger. 

 

Auch in größerem Kontext bleibt es dabei, dass sich zum "Sicheren Hafen" zu erklären ein Lippenbekenntnis ist, auf das fast kein eigenständiges Engagement für die Rechte und Unterstützung geflüchteter Menschen folgt. Im Gegenteil, die Zahl der "Sicheren Häfen" steigt, während auf EU-Ebene die GEAS-Reform durchgeprügelt wird oder zeitgleich riesige Prozesse gegen Seenot-Rettungs-Crews geführt werden, Frontex mit Millionen subventioniert wird und die Kriminalisierung von Flucht weiter voranschreitet. Diese Schere zwischen dem, was wir auf lokaler Ebene zu erreichen versuchten und internationalen Prozessen, die jeglichen Fortschritt nicht nur überschatten sondern zunichte machen, ließ in uns auch ein Gefühl der Ohnmacht und Frustration entstehen, das wir als Gruppe immer weniger auffangen konnten.

Wir möchten die vielen unterschiedlichen Beiträge und die Arbeit, die auch innerhalb der Seebrücke-Bewegung existieren, nicht unwahrnehmbar machen. All zu oft begegneten uns allerdings liberale Konzepte wie White Saviorism oder Optical Allyship und Unverständnis für die Notwendigkeit radikaler gesellschaftlicher Transformation. Die Unterschiede einer Österreichischen Seebrücke Lokalgruppe zu ihrem bundesdeutschen Counterpart spielen hier für uns ebenfalls mit rein. Allein die geographische Distanz, vermittelt eine gewisse Isolation zu anderen Gruppen aus Deutschland, während der Kontakt zu den wenigen Lokalgruppen innerhalb des Bundesgebiets ebenfalls kaum bestand und nur sporadisch aufrechterhalten werden konnte.

Ausblick

Die Hoffnung auf eine Welt frei von Herrschaft geben wir nicht auf. Viele unterschiedliche Wege können dafür eingeschlagen werden. Manche werden wir gemeinsam beschreiten, andere getrennt und in neuen Konstellationen. Was uns weiterhin eint ist zum einen der Unwille, die zynische Normalität (auf dem Mittelmeer und auch überall sonst) zu ertragen, so als gäbe es keine Möglichkeit einer anderen Welt. Zum anderen ist es der Wille, unsere eigene Position in der Gesellschaft und die damit verbundenen Privilegien weiter zu reflektieren und im zukünftigen aktivistischen Tun die Ausschlüsse, die dadurch passieren, einzugrenzen. 

Die Auflösung ist Ausdruck eines allgemeinen Gefühls politischer Handlungsunfähigkeit, Wut und Frustration (nicht nur) innerhalb linksradikaler Organisierung der letzten Jahre, das uns einzeln und als Gruppe mit der beklemmenden Tatsache konfrontiert, sich nur noch auf immer kleiner werdenden Karten bewegen zu können. Überall Kameras, Repression, kaum Rückhalt und Wissen aus der sogenannten Zivilgesellschaft und ein Staat, dessen innere und äußere Grenzen streng selektieren, wer wo zu welchem Preis sein darf. Manche von uns sehen dabei kein Licht am Ende des Tunnels, einzig das Licht, das uns im Widerschein der brennenden Institutionen in uns selbst begegnet. Die Veränderungen, die für die kollektive Entfaltung unserer Freiheit nötig sind, werden nicht erfragt. 

Sie werden erkämpft.