Italiens Behinderung von Seenotrettung gefährdet Menschenleben
Gemeinsame Erklärung von Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die an Such- und Rettungseinsätzen im zentralen Mittelmeer beteiligt sind
Angesichts der steigenden Zahl von Todesopfern im zentralen Mittelmeer seit Anfang 2023, die mit der Verabschiedung eines neuen Gesetzes durch die italienischen Behörden und der systematischen Zuweisung entfernter Häfen an humanitäre Rettungsschiffe zusammenfällt, fordern wir die italienische Regierung auf, die Behinderung unserer lebensrettenden Arbeit auf See unverzüglich zu beenden.
Nachdem die italienischen Behörden ein neues Regelwerk eingeführt haben, das speziell auf Such- und Rettungsmaßnahmen von NGOs auf See abzielt und diese behindert, haben Seenotrettungsorganisationen im Laufe des letzten Jahres wiederholt vor der Gefahr der weiter steigenden Todeszahlen im zentralen Mittelmeer gewarnt. Angesichts der mehr als 2.500 Männer, Frauen und Kinder, die im Jahr 2023 – dem tödlichsten seit 2017 – auf dieser Fluchtroute als tot oder vermisst gemeldet wurden, und der 155 Menschen, die in diesem Jahr bereits als tot oder vermisst gemeldet sind, wird deutlich, dass alle Rettungskapazitäten dringend benötigt werden.
Vor einem Jahr, am 24. Februar 2023, wandelte das italienische Parlament das Gesetzesdekret 01/2023 in das Gesetz 15/2023 um. Dieses Gesetz ist Teil einer Strategie der italienischen Behörden, die Präsenz von zivilen Rettungsschiffen auf See zu reduzieren, ihre Rettungskapazitäten einzuschränken und Ankünfte an der italienischen Küste um jeden Preis zu verhindern.
Diese vorsätzliche Behinderung der Rettungseinsätze von Nichtregierungsorganisationen findet statt, während die Such- und Rettungskapazitäten im zentralen Mittelmeer ohnehin völlig unzureichend sind. Dieses politische Spiel verstößt nicht nur gegen internationales und europäisches Recht, sondern verstärkt auch den Mangel an Rettungskapazitäten weiter - mit katastrophalen Folgen. Das zentrale Mittelmeer, schon jetzt eine der tödlichsten Fluchtrouten der Welt, wird hierdurch noch gefährlicher. Der erste Jahrestag des Schiffsunglücks vom 26. Februar in der Nähe der kalabrischen Stadt Cutro, bei dem vor einem Jahr mindestens 94 Menschen nur wenige hundert Meter von der italienischen Küste entfernt ums Leben kamen, ist eine düstere Erinnerung an diese tragische Realität.
Unmenschliches Dilemma
Das Gesetz schreibt unter anderem vor, dass zivile Rettungsschiffe nach einer Rettung sofort den ihnen zugewiesenen Hafen anlaufen müssen. Hierdurch sind sie gezwungen, andere Boote, die sich in der Nähe und in Seenot befinden, zu ignorieren. Dies steht jedoch im direkten Widerspruch zur im internationalen Seerecht verankerten Pflicht des Kapitäns, Menschen in Seenot zu retten. Nichtregierungsorganisationen, die gegen diese italienischen Vorschriften verstoßen, müssen mit einer Geldstrafe von bis zu 10.000 Euro und einer mindestens 20-tägigen Festsetzung ihrer Schiffe sowie einer möglichen Beschlagnahmung des Schiffes durch die Behörden rechnen.
"In vielen Fällen müssen wir uns entscheiden, ob wir die italienische Verordnung einhalten, wissend, dass Menschen möglicherweise dem drohenden Ertrinken überlassen werden, oder ob wir unserer gesetzlichen Pflicht zur Rettung aus Seenot nachkommen und dann mit Geldstrafen, Festsetzungen und der möglichen Beschlagnahmung unserer Schiffe rechnen müssen. Dabei verschlimmern die Festsetzungen von Rettungsschiffen das Fehlen von Rettungskapazitäten im zentralen Mittelmeer und erhöhen die Gefahren für Menschen, die sich auf die gefährliche Überfahrt begeben ", warnen die Unterzeichner*innen.
Hunderte von Tagen auf See verloren
Seit Februar 2023 wurden neun zivile Rettungsschiffe in insgesamt 16 Fällen von den italienischen Behörden festgesetzt. Damit wurde die zivile Flotte mehr als 300 Tage daran gehindert, im Einsatz zu sein und Menschen in Not zu helfen.
Die nachteiligen Auswirkungen des Gesetzes werden durch die Praxis der italienischen Regierung, den größeren NGO-Schiffen weit entfernte Häfen in Norditalien für die Ausschiffung der geretteten Menschen zuzuweisen, noch verstärkt. Diese Häfen können bis zu 1.600 Kilometer und fünf Tage Fahrt vom Rettungsort entfernt sein. Auch diese Praxis verstößt gegen das internationale Seerecht, das vorschreibt, dass aus Seenot gerettete Menschen so schnell wie möglich an einen sicheren Ort gebracht werden müssen.
Im Jahr 2023 mussten zivile Rettungsschiffe insgesamt mehr als 150.500 zusätzliche Kilometer zurücklegen, um diese zugewiesenen entfernten Häfen zu erreichen – das entspricht einer dreieinhalbfachen Weltumrundung und bedeutet mindestens 374 vermeidbare Tage der Überfahrt, verglichen mit einer Ausschiffung in näher gelegenen Häfen auf Sizilien und Lampedusa.
"Das sind Hunderte von Tagen, die außerhalb des Such- und Rettungsgebiets verbracht werden und in denen Menschenleben in Gefahr sind", kritisieren die Unterzeichner*innen. "Diese Praxis hält nicht nur NGO-Schiffe vom Einsatzgebiet fern, sondern führt auch zu ungerechtfertigten Verzögerungen für die Überlebenden, die an Land lebenswichtige medizinische Hilfe und eine angemessene Versorgung für Schutzsuchende erhalten müssen."
Ein hoher Preis
Während humanitären Such- und Rettungsmaßnahmen auf See von Jahr zu Jahr mehr behindert werden, zahlen die Menschen, die in Europa Sicherheit suchen, den wahren Preis dafür. Unterdessen führt die libysche Küstenwache mit Unterstützung der EU und ihrer Mitgliedstaaten, insbesondere Italien und Malta, weiterhin illegale Abfangaktionen und Zwangsrückführungen nach Libyen durch.
"Die weit verbreitete Ausbeutung und Gewalt, denen Menschen auf der Flucht in Libyen ausgesetzt sind, wurde ausführlich dokumentiert und könnte nach Ansicht der Vereinten Nationen ‚Verbrechen gegen die Menschlichkeit‘ darstellen. Indem sie mit Libyen kooperieren, um das Abfangen von Menschen auf See zu ermöglichen, machen sich Italien und die EU mitschuldig an weiteren Menschenrechtsverletzungen an Migrant*innen, Schutzsuchenden und Flüchtlingen ", so die Unterzeichner*innen. Erst vor wenigen Tagen hat das oberste italienische Gericht bestätigt, dass Libyen kein sicherer Ort ist und die Rückführung von Menschen dorthin eine Straftat darstellt.
Um zu verhindern, dass das zentrale Mittelmeer zu einem noch größeren Friedhof wird, fordern wir:
von den italienischen Behörden, die Such- und Rettungsaktivitäten von NGOs nicht länger zu behindern und die Grundrechte von Menschen in Seenot zu schützen, indem sie sicherstellen, dass zivile Rettungsschiffe Menschen in Seenot uneingeschränkt helfen können und die Geretteten im nächstmöglichen sicheren Hafen an Land gehen können, wie es das internationale Seerecht vorschreibt;
von den italienischen und europäischen Behörden eine effiziente Zusammenarbeit mit zivilen Rettungsschiffen und - und Rettungsschiffe im zentralen Mittelmeer einzusetzen, um weitere Verluste von Menschenleben auf See zu verhindern;
von der EU und ihren Mitgliedstaaten, dass sie jegliche materielle und finanzielle Unterstützung für die libysche Küstenwache einstellen, ebenso wie die Unterstützung von für schwere Menschenrechtsverletzungen verantwortliche Regierungen.